Von Magenbrot und dem Schlag auf dem Asphalt

Das Magenbrot lag am Boden.
Das süssliche, mit allerlei magenschonenden Gewürzen einbalsamierte Weichgebäck kommt alle Jahre wieder zur Basler Herbstmessezeit auf den Markt.
Man sagt, dass die Bauern früher beim ersten Novemberniesel vom Oberbaselbiet in die Stadt gewandert seien. Sie hätten auf dem Petersplatz beim alten Bäckermeister Memminger ihre Rucksäcke mit Magenbrot vollgepackt, um sich übers Jahr gegen Bauchschmerzen zu wappnen. Magenbrot wurde damals gegen Flatulenzen, arges Bauchfellgrimmen und hin und wieder gar bei Menstruationsbeschwerden (nicht der Bauer, die Bäuerin!) eingenommen.
So kommts, dass immer wenn Karussellpferde durch den Regen traben, wenn bunte Luftballons wie wildgewordene Konfetti zum Himmel schweben und die Drehorgelmelodien der Blinden unsere Herzen weinen lassen? kurz: immer wenn die Sensibelchen dem verstorbenen Sommer nachtrauern, DANN KOMMT DAS MAGENBROT!
Natürlich gibts heute die verschiedensten Arten von Magenbrot? stark gesüsst mit Zimt, Nelken und Kardamomen. Dann solches, das mit Konfitüre gefüllt oder mit Sultaninen gespickt ist. Und schliesslich dasjenige mit dem Schokoladenmantel. Bäcker Krebs zieht seinem Magenbrot einen solchen Schokoladenmantel über. Und eben dieses Brot lag nun auf dem Asphalt.
Kam so: Vater Krebs ratterte mit einer Riesenladung von schokogetauchtem Magenbrot aus der Backstube über den Asphalt ins Ladengeschäft. Die kleinen Stückchen waren auf eine etwas lottrige Transportkarre gestapelt worden. Ich meine: Die Räder hatten keine Stossdämpfer. Und der Asphalt war rissig. Der Wagen schaukelte, schwankte und zitterte? DA IST ES GESCHEHEN!
ES GIBT SIE NOCH, DIESE MEGAMAGISCHEN MOMENTE IM ALLTAG: EINES DER ZIG TAUSEND MAGENBROTSTÜCKCHEN FIEL VOM BLECH ZU BODEN. UND DA VERHARRTE ES NUN. EINE SÜSSE VERSUCHUNG INMITTEN VON DRECK? DENN DIE TROTTOIRS UNSERER STADT SIND NICHT MEHR WIE DAMALS, ALS MEINE ITALIENISCHE GROSSTANTE NELLY IHRE LANDSLEUTE AUF DEM STIEFEL MIT EXTREM SCHWEIZSTERILEN SCHILDERUNGEN MADIG MACHTE. «In Basel könnt ihr von den Strassen essen? so geleckt sauber ist alles!»
Also: Das kleine Stück Magenbrot lag zwischen einem gräulichen Strich Taubenscheisse und einem ausgetrockneten Kaugummi. Nun war ich schon immer ein recht unsensibles Kind, wenns ums Naschen der süssen Art ging. So haben meine Eltern mich bereits als fünfjähriges, durch seine Schönheit echt gefährdetes Kind aufgeklärt und von einem Mann geredet, der kleine Buben mit allerlei Zuckerschleckzeug anmache und dann geschähe das Schreckliche. ICH NICHTS WIE AUF DIE STRASSE, UND WO WAR DER MANN?!
Er kam nie und so blieb mir nichts anderes übrig, als mit Dorchen Muff im Sandkasten der Ökolampad-Anlage Kuchen zu backen. Der Sandkasten war damals auch nicht unbedingt das, was bei einer Lebensmittelkontrolle einfach so durchgegangen wäre. TONNENWEISE HABE ICH DEN DRECK VON HUNDESCHLABBER UND RESTREGENWÜRMERN ALS SANDKUCHEN IN MICH REINGESTOPFT, BIS MEINE MUTTER UNERWARTET AUFTAUCHTE UND SICH OLIVENGRÜN ÜBERGAB: «Kind, wie kannst du auch!»
Die Kembserweg-Omi aber nannte Mutter eine sensible Kuh und es mache weiss Gott keinen Sinn, mich mit Vitaminen vollzustopfen, wenn das Böse dieser Welt in Viren stecke und man dagegen nur mit Dreck ankomme: «Lass die Kinder den Sandkasten verschlingen, Lotti? so entwickeln sie ihr Immunsystem!»
Ich habe euch dies alles nur geschildert, damit ihr begreift, dass so ein köstliches Magenbrotstückchen auch auf dem dampfenden Mist eines Milchmannrosses hätte liegen können? DA KENNE ICH NICHTS. DIE GIER IST STÄRKER ALS JEDER DRECK DER WELT.
Also bücke ich mich nach dem feinen Stückchen. UND DA GLOTZT MICH DOCH SO EINE KLEINE GÖRE MIT AUGÄPFELN AN, WIE SIE SO NUR UNSERE BUNDESRATSPRÄSIDENTIN HERVORSTECHEN LASSEN KANN: «Ich habe es zuerst gesehen!»
«Hau ab!» (Das war ich.)
«Sie sind schon dick genug...» (Soll mir noch einer einmal etwas von «süssem Kindermund» sagen!)
«Du gehörst in die Schule? zieh Leine!»
Die bundespräsidentlichen Stechaugen mustern mich höhnisch: «Sie haben Zucker. Und hohen Blutdruck!»
In diesem Moment dackelte der kleine Waldi der Geschwister Maser um die Ecke. Er biss zu. UND WEG WAR DAS SÜSSE GLÜCK DIESES MIESEN MORGENS.
«Das haben sie nun davon!», zischte die Kleine.
Ich. «Du sollst überhaupt nicht mit fremden Männern reden!»
Wieder die Stechaugen. Dann: «Männer habe ich gerade noch gehört...»
Dieses Kind hat nie Sandkuchen gebacken!
Und: «Spuck es aus...!», befahl Fräulein Maser ihrem Waldi.
Der Hund schluckte hastig und mit tränenden Augen das Magenbrotstück herunter. Dann geiferte er zufrieden auf den Asphalt? direkt neben den Taubenschiss.
Hunde sind vernünftige Menschen.

Samstag, 6. November 2010