Von Ilses Scheidung und Wispern

Natürlich merkten wir, dass etwas nicht stimmte.
Wir wussten bereits, dass nicht nur die Bienchen Liebe machen. Und hatten erkannt, dass der Storch mit dem Windelpaket im Schnabel eine Mär ist. KURZ? WIR WAREN SCHON RICHTIG VORAN FÜR UNSERE ZEIT.
Dann begannen sie zu tuscheln.
Wenn ich die Stube betrat, stoppten die Ge­­spräche. Grossmutter liess das zarte Schleiergitter vom Hut fallen. Und flüsterte. «Pas devant les enfants!»
Und: «Hast du keine Hausaufgaben?!», trompetete Mutter genervt. Sie kamen immer mit den Hausaufgaben, wenn sie nicht weiterwussten.
Rosie bekam es dann heraus. «DEINE TANTE ILSE LÄSST SICH SCHEIDEN.»
Meine beste Freundin eröffnete mir das Drama, als wir wie zwei aufgehängte Wäscheklammern­säcke kopf-nach-unten an der Kletterstange des Oekolampad-Pärkchens baumelten.
Rosie hatte es von ihrer Mutter. Die wieder wusste es von Frau Schweizer, die erste Verkäuferin im Konsi war (allgemein als «Konsumross» bekannt). Das Konsumross bezog die Neuigkeit von Fräulein Zirngibel, dem es meine Grossmutter unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit vorge­jammert hatte. UND ALS ES BEI METZGER LÜTHI DIE RUNDE MACHTE, WUSSTEN ES EH ALLE.
Ich machte das Rädchen an der Stange. Kam ­wieder auf den Boden. Und sagte: «Ja und?»
Rosie schaute mich streng an: «WAS: ja und? Hast du auch mal an die Kinder gedacht?!»
Ich ahnte in den Worten der neun Jahre jungen Altklugen den Sound ihrer Mutter, die Empörung vom Konsumross. Und das aufgeregte Geschnatter von Fräulein Zirngibel.
«Meine Vettern werden das überstehen ? sie sind hart im Nehmen!», brachte ich den Skandal auf den Punkt. Die Vettern hatten eh mehr den Fussball als die Familie im Kopf. «Überdies können sie den Papa gegen die Mamma ausspielen. Und umgekehrt. So bekommen sie von beiden Seiten Tonnen von Schokoladen, Ferien in Rimini und Trudy Gersters Märchenplatten à discrétion... Es kann ganz toll sein, ein Scheidungskind zu werden!»
In der Familie war der Skandal tabu. Sprach einer mal darüber, dann nur durch die Nase. Und wispern... wispern... wispern...
DAS NEUGIERIGE KIND SPERRTE DIE LÖFFEL TELLERGROSS AUF ? ABER ES HÖRTE LEDIGLICH UNDEUTLICHE ZISCHTÖNE! Und Geflüstertes...
Eines Tages setzte sich die Mutter das Hütchen mit der seidenen Teerose auf. Sie knetete die stets zu engen Lederhandschuhe über die etwas dick­lichen Finger. Dann kämmte sie ihrem schönsten Sohn die Fransen, die simplen: «Wir gehen zu Tante Ilse!»
DAS TÖNTE WIE DAS HORN ZUR SCHLACHT!
Meine Mutter hatte ihre Schwägerin nie besonders gemocht. Sie war ihr zu zickig. Zu impulsiv. Zu laut. Und überdies hatte sie das zustande gebracht, was der lieben Mamma versagt geblieben war: vier Kinder. Und die: Alle, aber wirklich alle gut erzogen. Tante Ilse wurde in der Familie nicht umsonst «der Feldweibel» genannt. Da ich als verwöhnter Einzelbalg punkto Erziehungsbild nicht sonderlich viel hergab, hatte die Schwägerin Oberwasser. «Du lässt ihm zu viel durch, Lotte. Manchmal brauchts eine harte Hand!»
Mutter schluckte drei Mal leer. Und konterte in eisigem Ton, der zischte wie heisses Teewasser auf Eis: «MEIN SOHN IST KEIN PUDEL, DEN MAN DRESSIERT. Ich lasse jedem seinen Freiraum!»
Ilse lachte höhnisch auf. «Ja. Das wissen wir. Besonders deinem Ehemann ? mein Bruder wurde schon als Kind total verzogen. Das wirkt sich nun aus. Machoallüren bis an die Eier. Nein, Lotte: Auch Ehemänner brauchen eine eiserne Führung. Und die straffe Leine!»
SO WEIT MEINE TANTE IM O-TON.
«Du lässt uns jetzt kurz alleine, Bub», sagte die Mamma, als wir bei Ilse in der Stube standen, wo das Hochzeitsbild abgehängt war. Sie zupfte vorsichtig das Rosenhütchen aus den schwarzen Locken: «UND WEHE DU HÄNGST DICH ANS SCHLÜSSELLOCH! DANN MACHE ICH FRIKADELLEN AUS DIR!»
Ist ja klar, dass es sich der Kleine nicht verkneifen konnte! Er presste sein Öhrchen so stark an die Stubentüre, dass dieses schon nach zehn Minuten die Farbe von überreifen Auberginen hatte. Allerdings vernahm der Lauscher diesmal null Wispern. Der Ton der Mutter war laut und scharf:
«Du wirst das der Familie nicht antun. Und schon gar nicht deinen Kindern, Ilse! Jeder Mann frisst mal über den Hag. DAS SIND HALT MÄNNER. Und sie kommen immer wieder an den Topf zurück.»
«DU SPRICHST, WIE DU ES VERSTEHST!», schrie die Tante.
«Du hast recht. Ich hätte mich schon 20-mal scheiden lassen können ? ABER WENN MAN IM LEBEN ZU ETWAS JA GESAGT HAT, SOLLTE MAN SICH DAFÜR EINSETZEN. Die Ehe ist kein Suppenbeutel: aufreissen ? und weg!» Es war nun plötzlich still. Und ich hörte, wie Ilse sich schnäuzte.
Mutter hatte sie dort, wo sie die Schwägerin haben wollte ? im moralischen Out. «ES IST IMMER VERLETZTE EITELKEIT, ILSE ? denk an die Kinder!»
Ich wäre fast hingeknallt, als da die Türe energisch aufgerissen wurde. Mutter griff nach dem Rosenhütchen. Und nahm mich an der Hand: «Komm. Wir gehen!»
«Scheidungskinder habens nett», quakte ich unterwegs meine eigene Philosophie in den Tag, «sie bekommen von beiden Seiten Mohrenköpfe und Märchenplatten!»
Also durfte ich mir bei «Schneiderhahn» ein Stückchen Cremeschnitte reinziehen. Und Mutter grinste: «Du bist ein mieser, kleiner Erpresser...»
Heute sind Kinder ungeschiedener Eltern in der Minderheit.
Sie hätten einen Mohrenkopf verdient!

Dienstag, 5. März 2013