Von der Stille in Adelboden und Tapetenwechsel

Donnerstag «Hier ist der Balkon so schön hoch? ich glaube ich stürze mich runter!»
Das war der Moment, als mir das Stück Erdbeertorte (ohne Rahm) vor Schreck von der Gabel kippte.
Es war in Adelboden. Und es war ein Traumsonnentag.
Mein Vater hat immer gesagt: «In Adelboden regnets auch, wenn die Sonne scheint.»
Na ja? er sahs eben, wie ers verstand. Dabei hatte er eh nur Augen für Höheres? das waren die Berge. Und das war das, was er Aellig Resis «Holz vor dem Haus» nannte.
Ich sass direkt an der Dorfstrasse bei Haueter. Haueter bäckt Erdbeertorten. Man kann sie mit und ohne Rahm haben. Ich nahm ohne. Die Bedienung sah mich mitleidig an? mein schwerer «OHNE» Seufzer ging an ihr Herz. Ich vermute, dass sie diesen Seufzer der Entbehrung mehrmals täglich zu Ohren bekommt.
Vor einer halben Stunde war ein Grüpplein von älteren Menschen an meinem Boulevardtischchen vorbeigezogen. Ich liebe alte Menschen. Im Gegensatz zu den Jungen stecken sie voll von Geschichten. Und erzählen die auch immer. Das ist fruchtbar für einen Schreiber.
Bei jüngeren Menschen bekomme ich nur die Hälfte der Story mit. Die andere Hälfte geht direkt über den Kopfhörer. Das hört sich dann so an: «?schhh dr Waaaahn? heee? mega. Und das hett si wirgligg gsait...?»
Ich weiss nicht, wer sie ist. Was sie gesagt hat. Und ob sies auch wirklich gesagt hat. Das Natel verschluckt die Zwischentexte.
Das ist furchtbar für einen Schreiber.
Ältere Menschen pflegen noch die Kunst der persönlichen Kommunikation. Da sie meistens nicht ganz bei Ohr sind, bekomme ich die Dialoge laut, deutlich und mehrfach mit (es gibt Ausnahmen wie bei meiner Tante Olgi, wo die Oberen einfach nicht mehr richtig haften wollen? die Familie nennt ihre Monologe das «Kastagnetten-Fest»).
Zurück zum Alten-Grüppchen. Es war die Sektion eines Altersheims, das sich ein paar Tage «Tapetenwechsel» in einem Hotel gönnte. Erstaunlicherweise du-siezen sich alle untereinander wie Konsumverkäuferinnen. Auch das hat etwas Rührendes.
Hier also: «Frau Zwicki... magst du noch?» Dann zu einer Begleiterin: «Sie hats in den Beinen...»
Frau Zwicki schüttelt energisch den Gehstock: «Ich habs überhaupt nicht in den Beinen. Die bringens noch wunderbar. Kein Äderchen, keine Cellulitis? und dies mit 82...» Dann ein vielsagender Blick zur Freundin: «Da könnten andere aber froh sein, wenns auch so wäre...»
Die kleinen Bissigkeiten im Alter sind der Schlagrahm auf der Erdbeertorte.
Der kleine Mann mit dem Schildmützchen «MAMMIS LIEBLING» grinst seinen Kumpel (mützenlos? aber behütet mit einem Taschentuch, an dem er alle vier Ecken verknotet hat) an: «Und du, Herr Huber? geht dein Bein noch, hähä?»
Herr Huber macht mit Mittel- und Zeigefinger das V-Zeichen. Und auch «hähä».
Die älteren Damen überhören solches Geplänkel: «Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan? diese Stille hier. Also in unserer kleinen Leichenhalle ist mehr Betrieb...»
«Aber, aber Frau Käslin», kichert nun die Zwicki, «ich glaube, es war nicht die Stille, welche dich wach hielt. Ich habe gesehen, wie dieser Mann vom zweiten Stock, der immer sagt, er sei ein Künstler, in dein Zimmer schlich und...»
«Er IST ein Künstler», pocht die Unausgeschlafene nun mit ihrem Spazierstock auf den Asphalt, so dass sie den Staub aufwirbelt. «Er hat mir alles gezeigt...»
«Alles gezeigt, hähä...», grölt der Huber. Und macht wieder das V mit seinen Gichtfingern.
Das Grüpplein plänkelt noch ein bisschen hin und her. Der Huber bleibt mit Frau Käslin zurück? gleich hinter meinem Tischchen. Dann ladet er sie zu einem Stück Erdbeertorte ein: «Also, was die immer zu reden haben...»
Frau Käslin seufzt : «Schrecklich diese Weiber... sie sehen alles. ALLES. Manchmal halte ich das dumme Geschwätz einfach nicht aus. Ich höre anstandshalber ein paar Minuten zu. Dann verabschiede ich mich? man hat ja immer ein paar Tropfen oder Pillen einzunehmen und...»
«Was darf ich bringen?», strahlt die Serviertochter.
«Erdbeertorte? zweimal», strahlt Huber zurück.
«Mit oder ohne Rahm?»
«MIT!», lacht Huber. Und macht das V-Zeichen.
«OHNE «, seufzt die Käslin. Und eben SIE ist es, die später erklärt: «Manchmal möchte ich mit all dem einfach Schluss machen. Hier ist der Balkon hoch genug und...»
«Aber, aber Frau Käslin...», schaut nun Huber sein Vis-à-vis streng an, «so schnell wirft man die Flinte nicht ins Korn. Das kommt, weil Sie noch neu im Heim sind. Aber eigentlich haben wirs doch ganz fidel...»
Die alte Frau schüttelt energisch ihre Löckchen, in das eine hilfreiche Friseurhand etwas Gelbliches ins Weiss reingezwungen hat: «Es ist sehr, sehr schwer... man hat doch niemanden mehr, mit dem man sich vernünftig austauschen kann...» Ihre blauen Äuglein leuchten nun ein bisschen auf: «Ausser Sie, Herr Huber? Du bist ein guter Mensch!»
Fünf Minuten streicheln sie einander die Hände. Und bestellen nochmals ein Stück Erdbeerkuchen.
JETZT beide MIT Rahm.
Ich wieder (seufzend): OHNE.

Donnerstag, 10. Juli 2008