Lesen

Es gab nichts Schöneres. Draussen: Tannenrauschen und Nieselregen. Drinnen: das kleine Kajütenbett im Chalet. Und ein Buch.
Ich war eines dieser Kinder, die schon lesen konnten, als sie in den Kindergarten kamen.
Kam so: Märchen waren meine Welt. In Märchen geschahen alle diese Wunder, die ich mir in meinem noch sehr jungen Leben so stark erhoffte: Dass aus einem geküssten Frosch ein Prinz explodiert, dass im Hexenwald ein Haus voller Lebkuchenläden steht, dass ich drei Wünsche frei habe.
Tante Julie erzählte mir die Märchen aus einem Buch. Sie verdiente sich ein Nebenbrot mit dem Flicken von Damenstrümpfen. Das muss man sich so vorstellen: Die Nylonstrümpfe mit den Nähten waren vor einem halben Jahrhundert noch extravagant und sündhaft teuer. Fiel eine Masche, war es eine Katastrophe. Man stoppte die Gefallene mit Nagellack und brachte den kaputten Strumpf zu meiner Tante. Mit einem kleinen Maschenmaschinchen nadelte sie die abgesackte Masche wieder auf und verkettete diese unter der Lupe mit den anderen Maschen. Das kostete 50 Centimes. Für ein neues Paar Strümpfe, sandfarben, mit Naht und Nummer 9, legte frau zu jener Zeit gut fünf Franken hin. UND FÜNF FRANKEN WAREN DER VIER-STUNDEN-LOHN EINER PUTZFRAU.
Tante Julie konnte mit ihrem Maschenstress nicht immer Märchen erzählen. Sie drückte mir das Buch in die Hände. «Wenn du einen Buchstaben nicht weisst, fragst du mich...»

Arztromane. Nach fünf Tagen konnte ich lesen. Und dann ackerte ich alles durch, was ich in den Regalen finden konnte. Nun war unsere Familie nicht das, was man in die intellektuelle Schublade ablegen möchte. Ich möchte fast sagen: im Gegenteil. Die Kembserweg-Omi schnüffelte sich durch Arztromane, in denen die blonde Krankenschwester gut war und schwarzes Haar für sie stets Gefahr bedeutete.
Mutter hatte es mit Kommissar Wilton? der Kommissar löste jede Woche einen neuen Fall auf 70 Seiten zu Fr. 1.10.
Und mein Vater las die «Arbeiter-Zeitung», wie sich das Blatt damals nannte. Die Parteizeitung war von bunten Märchen so weit entfernt wie Berlusconi vom Keuschheitsgelübde...

Schöner Traum. Mit anderen Worten: Ich las. Aber ich las Schreckliches. Und als mein Primarlehrer Ruppli in der vierten Klasse das Aufsatzthema «Mein schönster Traum» an die Wandtafel schrieb, schilderte ich in eindrücklichen Worten, wie ein Mörder Dora Muff, die mir die Rolle der Maria im Krippenspiel streitig gemacht hatte, mit drei Pfund Arsen (in Ovomaltine eingerührt) ins Jenseits schickt. IM AUFSATZ HATTE ICH DANN DEN PART DER MARIA. UND DIESE HATTE DAS WALLENDE, BLONDE HAAR, DAS ICH VON DEN GUTHERZIGEN KRANKENSCHWESTERN AUS KEMBSERWEG-OMIS ÄRZTEROMANEN SO GUT KANNTE.
Es war mein schönster Traum? aber für Lehrer Ruppli war es ein Schock. Und er empfahl meinen Eltern das Einschalten eines Kinderpsychologen. Doch die lachten nur: «Das hat er doch aus seinen Büchern. Das Kind liest einfach zu viel.»
Es war nicht mein liebender Vater, der mich mit gut gemeinten Worten von Bienen und Blumen aufklärte, sondern es war das Heft «Die heisse Mutzenbacherin und ihr Knecht», das ich unter dem Kopfkissen von Onkel Alphonse fand, das mir die keuschen Augen öffnete. Die Bilder und kargen Worte machten sofort klar, dass das mit dem Storch nicht stimmen konnte. Diese Pornoschmöker von Alphonse haben mich anfangs nur fasziniert, weil sie als Comic aufgezogen waren? aber bald einmal langweilte mich das ewige «Ohhh!!!»-Ausrufezeichen-Gestöhne, und ich war froh, als Mutter mir auf den 8. Geburtstag hin «Micky Maus» abonnierte. Mit Donald und Daisy war mehr los als mit der Mutzenbacherin.
Auf dem Gymnasium versuchten sie dann meinen wilden Geschmack etwas zu bündeln. Man verschrieb uns Walter von der Vogelweide. Und ich deklamierte an Familiengeburtstagen und Trauerfeiern seinen Frühjahrsvers: «Doo der summer kommen was, und die bluomen in dem gras, gar wünnegliche sprungen, allda die vogele sungen...»
ES WAR KEIN GROSSER HIT. ONKEL ALPHONSE HINGEGEN RÄUMTE MIT SEINEN WIRTINNEN-VERSEN AB. Und ich merkte schon früh, dass wertvolle Literatur nicht unbedingt auch ein Publikumserfolg sein muss.

Ein Märchen. Als ich nun kürzlich mit meinen neuen Weihnachtsgeschichten in eine «Literatur-Runde» gerufen wurde und der Moderator mich fragte, «welche wichtigen Bücher haben Sie für Ihre Arbeit geprägt?», war ich versucht, die Wahrheit zu sagen. Und «Micky Maus» sowie «Josefine Mutzenbacher» mit ihrem «Die verfickte 69» anzuführen.
Da dies den Verkauf der Weihnachtsgeschichten aber sicherlich nicht gefördert hätte, tischte ich dem Moderator mein Märchen auf.
«Märchen», sagte ich. «Schon als Kind wäre ich beim Krippenspiel gerne Maria gewesen.»
Der Moderator wechselte erschrocken zu einem anderen Gast. Der war von Goethe, Kant und Thomas Mann inspiriert.

Montag, 25. Oktober 2010