Die kleine Insel

Ein Zittern geht durch das Schiff.
Wie hunderttausend Quellen sprudelt das Wasser ringsherum auf.
Dann legt sich der Dampfer müde auf die Seite.
Tot? wie ein erlegtes Reh.
Mauro schaut dem Spektakel stumm zu. Seine Mutter drückt den Jungen an ihren Leib. Am Hafen jagen die ersten Fischerboote zur Unglücksstelle.
Der Pater lässt die Kirchenglocken läuten.
Der Zivildienstgeneral brüllt nach Decken. Es gibt wohl kaum einen der 500 Insulaner, der jetzt nicht auf den Beinen ist.
ES IST DIE NACHT, DIE ALLES VERÄNDERN WIRD...
Mauro ist auf dieser kleinen Insel geboren? seine grossen Brüder gehen hier zur Schule. Und zweimal pro Jahr besteigt die Familie das Schiff, wenn auf dem Festland? «il continente», nennen sie den Stiefel hinter dem Wasser? Grosseinkäufe getätigt werden müssen.
Die Insulaner leben ihr eigenes Leben? eine Überfahrtsstunde weg vom «continente». Im Sommer kommen die Touristen. Sie bringen Fröhlichkeit. Aber auch Unruhe. Und zu viele Autos. Plötzlich ist das einzige Strässchen, das um die Insel führt, verstopft wie der Dickdarm von Nonna Lucia. Die Kinder haben jetzt keine Spielstrasse mehr. Sie werden in das kleine Atrium des Schulhofs verbannt. Und maulen dort herum:
«Wann ziehen die wieder weg!»
«Sie bringen uns Geld», erklären die Alten. Wie sie es von ihren Alten und die von den ihren gehört haben. «Ohne Sommertouristen stirbt die Insel...»
Mauros Vater arbeitet jeden Sommer in der Gartenvilla eines reichen Mailänders. Anna schaut dort im Haus zum Rechten. Sie putzt Fensterscheiben, schrubbt Marmorböden und poliert Gläser auf, die in der Winterzeit stets einen bräunlichen Staubrand ansetzen.
Alle auf der Insel bereiten sich auf die Saison vor? wie das Ensemble eines Theaters zur grossen Oper. Die verschlossenen Läden der wenigen Hotels öffnen sich wie die Rosen im Mai. Und überall spürt man diese fieberhafte Erregung auf den Grossmoment.
DIE INSEL IST EINE KLEINE FAMILIE. Und bittet zur Sommerparty.
Als das Schiff unterging, machten die Insulaner Schlagzeilen: der Pfarrer, der die Geretteten mit Altartüchern trocknete... Hotelbesitzer, die alle Zimmer (ohne Rechnung zu stellen) öffneten... der Pizzabäcker, der morgens um drei Uhr auf Teufel komm raus Brot backte. In aller Welt wurde nun von den Insulanern geredet. Das Fährboot spuckte Herden von knipsenden, filmenden, wichtigtuerischen Journalisten aus. Die Staatsmänner vom «continente» nutzten die Gelegenheit, um auch ein paar Worte in amerikanische Mikrofone zu sprechen. Und später, als die Toten geborgen und alle Geretteten wieder über Wasser aufs Festland gebracht worden waren, kamen die ersten Sensationstouristen. Nur für eine Stunde.
Aber sie knipsten sich die Finger wund.
Jetzt. Nach vier Monaten, liegt der Dampfer wie ein riesiges Geschwür beim Hafen.
Der Mailänder Fabrikant hat angerufen, dass er dieses Jahr nicht hierherfahren könne. Die meisten Hotelzimmer bleiben geschlossen, wie erfrorene Blüten. Und jeden Tag verteilt Rosalba auf ihrem Postmoped eine neue Stornierung von gemieteten Ferienwohnungen.
Die Sommeroper ist ein Winterdrama geworden.
Der Sandstaub auf den Gläsern bleibt.
Die Insulaner sind traurig, weil niemand zu ihrer Party kommt.
Nur die Kinder spielen fröhlich auf der Strasse.

Montag, 4. Juni 2012