Eleonora del Sardo (eigentlich Lenchen Schneider)

Sie sass auf dem Plüschsessel.

Schaute um sich.

Und schüttelte den Kopf: «Was für ein Zerfall!»

Eleonora del Sardo – eigentlich hiess sie Lenchen Schneider – linste mit dem Operngucker die Reihen ab: «People of Schutt und Gröll!» – zischte sie.

Wo blieb der Glanz?

Wo versteckte sich das Wunder des Theaters?

Wo waren die bodenlangen Roben, die früher bei einer Zauberflöten-Premiere in den Foyers herumgezeigt wurden?

Jetzt – JEANS UND ROLLKRAGEN! Dazu ein spiessiges Rucksäckchen von Dolce Cabana, in dem das nötige Koks steckte, damit man den Abend relaxt durchstehen konnte.

Lenchen Schneider alias Eleonora del Sardo seufzte: damals Pfefferminz-Bonbons im Täschchen.

Heute Koks im Rucksack.

Und nach der Aufführung keine Premierenfeier. Sondern: Party!Party!

Lenchen Schneider hatte schon als Kind wie ein Kanarienvogel rumgeträllert.

Mit 12 sang sie Gounods Ave Maria an einer Beerdigung. Mit 17 die Olympia in Wuppertal.

Und mit 20 sprang sie in London über Nacht für die erkrankte Cristina Deutekom als Königin der Nacht ein.

Sie beherrschte das hohe F mühelos – sie schmetterte es so sturzlos hin wie SPITZEN-Eiskunstläufer ihre Vierfach-Toeloops.

London war dann auch der Durchbruch. Lenchen wurde jetzt als «die-F-Königin» in der Opernwelt herumgereicht – ähnlich wie die Wurstplatte am Schwingfest.

Als sie in der Scala dann die Violetta singen sollte, war die Auflage der Direktion: NAMENSÄNDERUNG! Ein Lenchen Schneider eröffnet in Mailand keine Saison!

So betrat Lenchen als Eleonora del Sardo die Bühne. Ihr hohes F sollte die Szene während der nächsten 30 Jahre übertönen.

Es war ein Leben auf höchster Lage – aber nicht unbedingt glücklich.

Lenchen war weniger der «Traviata»- als der «Ich-habe-dir-noch-eine-Stulle-gestrichen»-Typ.

DIESES ANDERE LEBEN KAM ZU KURZ.

Für Lenchen gabs keine Familie. Keine Kinder. Nicht einmal einen Liebhaber.

Hin und wieder erlebte «Eleonora del Sardo» eine Affaire zwischen zwei Aufzügen. Quickies im Allegrissimo-Tempo. Drei Mal mit dem Dirigenten. Ein Mal mit einer Maskenbildnerin.

DANACH DIE GROSSE LEERE.

ALS EINZIGE WÄRME ERLEBTE SIE DIE APPLAUSWELLE, WENN SIE NACH IHREM HOHEN F ALS KÖNIGIN WIEDER IM BODEN VERSANK.

Mit 60 bröckelten die oberen Tonlagen. Die Kritiken waren giftig. Eleonora del Sardo zog sich gekränkt zurück. Und wurde wieder Lenchen Schneider.

In ihrer kleinen Heimatstadt kannte sie kaum einer – und niemand wusste, dass sie die grosse F-Sopranistin war.

So sass sie in ihrer langen Robe im roten Plüsch des Theaters. Und ärgerte sich über die Wolken, die der verschwitzte Wollpullover ihres Sitznachbars ausströmte.

Licht aus! – Der Direktor erscheint auf der Bühne.

Lenchen kannte das Zeichen: meistens eine bevorstehende Katastrophe.

«Meine Damen und Herren – Frau Olga Kusnezow muss ihren Auftritt als Königin der Nacht absagen. Unser Regisseur wird die Rolle mimen …»

Der Direktor lachte nun anbiedernd: «Es sitzt vermutlich keine Sängerin mit dreifach gestrichenem hohem F im Theater – hähä!?»

«Arschloch!», dachte Eleonora del Sardo.

UND DER AUSRUCK ZEIGT, WIE SEHR SIE WIEDER LENCHEN SCHNEIDER GEWORDEN WAR.

Freitag, 28. September 2018