Die Stalkerin

Sie stand mit ausgebreiteten Armen da.

Ein bisschen wie dieser Herr Jesus auf dem Hügel von Rio.

Und sie lächelte. Freundlich. Lieb. Ein wenig verschmitzt.

(Dies alles nicht wie dieser Herr Jesus auf dem Hügel von Rio.)

Jens wusste nicht, was er tun sollte.

Er schaute nach hinten. Aber nein – da war keiner. Das Lächeln und die ausgestreckten Arme galten ihm. IHM ALLEINE.

Die Frau war klein. Ihr Haar lang. Strähnig. Grau.

Ein bisschen sah sie aus, als wäre sie als lädierter Engel von einem der neu entdeckten Planeten runtergefallen.

Der Jupe war fadenscheinig. Die Bluse zu gross. Und die Handtasche in einem hässlichen verwaschenen Aubergine-Ton.

Dazu Schuhe mit halbhohen Absätzen. Sauber geputzt. Aber arg ausgetreten.

Jens atmete durch. Und ging auf die andere Strassenseite.

Ein Velofahrer, der wie ein Blitz elektronisch angetrieben an ihm vorbeizurrte, fluchte hinterher: «Pass doch auf, du Schwuchtel!»

Jens war in Gedanken versunken gewesen: «Wer ist sie? Braucht sie Geld. Oder stalkt sie Schwule?»

Ganz klar – Jens war immer einen Schrei zu bunt gekleidet. Man ahnte, was los war. Aber wenn sie Schwule hasste (und solche Reaktionen hatten – wie Jens bitter feststellen musste – in den letzten Jahren zugenommen), weshalb lächelte sie ihm dann freundlich entgegen?

Er schüttelte den Kopf.

DA STAND SIE WIEDER VOR IHM:

WIEDER DAS LÄCHELN.

WIEDER DIE ARME, ALS WOLLTE SIE DIE WELT AN SICH DRÜCKEN.

Jens flüchtete ins Tram.

Sie stand stumm vor dem Fenster. Ihr Blick war freundlich. Aber durch die Scheibe auf ihn gerichtet.

«Kennen Sie die Frau», fragte eine Alte, die mit ihrem Einkaufswägelchen auch den zweiten Sitz besetzte.

«Ja», sagte Jens. Und winkte der Stalkerin zu.

Diese blieb unbeweglich freundlich – unbeweglich. Mit offenen Armen.

Er sah sie nun öfters. Sie hatte ihn auf dem Radar.

Mal stand sie vor dem Fitness-Studio. Mal vor seiner Lieblingsbeiz.

Stets lächelnd. Mit den Rio-Jesus-Armen. Und den ausgelatschten Pumps.

Einmal haute er sie an: «Bin ich Ihnen zu bunt?» Nur Lächeln.

«Oder brauchen Sie Geld?»

Keine Antwort.

«SIE GEHEN MIR AUF DIE EIER!»

Lächeln.

Er erzählte beim Krafttraining von ihr.

Jemand nickte mit 20 gestemmten Kilos: «Ach. Die kenne ich. Nicht ganz Hugo. Aber harmlos. Ihr Bräutigam soll ihr vor der Trauung davongelaufen sein. Sie stand alleine vor der Kirche. Breitete die Arme aus – und keiner tröstete sie…»

WUMMMMS – DIE 20 KILOS SCHMETTERTEN AUF DIE MATTE.

Künftig lächelte Jens zurück. Und dachte, dass auch er ein Leben lang mit ausgebreiteten Armen dastehen würde. Keiner tröstete ihn.

Eines Tages sah er sie beim Markt. Sie breitete die Arme aus. DIES VOR EINEM ANDERN MANN.

Jens spürte so etwas wie Eifersucht. Und: Was hatte dieser Dicke, was er nicht hatte?

Er stellte sich aufreizend neben sie. Aber sie übersah Jens einfach.

«SO WIRST DU IMMER ALLEINE VOR DER KIRCHE STEHEN!» – blaffte Jens sie an.

Sie lächelte.

«Und was war denn das?», fragte der Dicke.

«Ein Engel von einem andern Planeten», murmelte Jens.

Montag, 20. März 2017