Hoffen für Tilly

Tilly schaute sich im Stübchen ihrer Grossmutter um.

Aus der Küche rief Tanja: «Es hat noch Kaffee­kapseln. Soll ich uns einen Espresso machen?»

Tillys Grossmutter war tot. Bei ihren Einkäufen war sie vor dem Aktionsständer mit den ­Weihnachtsstollen zusammengebrochen.

Als die Polizei auf Tillys Mobiltelefon anrief (man fand die Nummer im Portemonnaie der Alten), war Mittagsstress.

Tilly arbeitete in der Kantine eines Spitals. Sie schöpfte Essen auf die Teller. «Ich bin in einer Stunde auf dem Posten…», sagte sie.

Tilly wollte studieren. Medizin. Ärztin wäre ihr Traumberuf gewesen. Aber nach dem Tod der Eltern war kein Geld da. Ihr Vater hatte das Ersparte in Aktien angelegt. Spekulativ. Na ja – man kennt das Ende der bösen Börsen-­Geschichten.

Tilly unterbrach ihr Studium. Und fand den Job in der Kantine.

«Sie hat nette Tässchen… ungarisches Porzellan!», meldet sich Tanja jetzt aus der Küche. «…Zucker gibts auch!»

Tanja hatte in Kunstgeschichte promoviert. Sie liebte die Klassisch-Modernen. Überdies war sie Tillys herznahste Freundin. Und als diese sie bat, beim Räumen der Grossmutterwohnung zu ­helfen, war das Ehrensache: «Klar – vielleicht ­finden wir ja einen Schatz!»

Tilly lachte: «Sie war die beste Oma der Welt. Aber leider auch die ärmste. Oma war geschieden, weil sie mit einem Kunsthändler abgehauen ist. Sie polierte dann die magere Rente als ­Heimschneiderin auf…»

In der Küche keuchte eine Kaffeemaschine.

«Was ist aus dem Kunsthändler geworden?», ­überbrüllte Tanja den Lärm.

Tilli seufzte: «Darüber hat sich Oma stets ­ausgeschwiegen. Vermutlich hat er sie einfach wieder ausgerahmt…»

Sie öffnete zögernd das wuchtige Buffet mit der Glasvitrine. Es gab eine Besteckschachtel mit angelaufenem Silber. Viele zusammengebundene Bändel und Schnüre.

In einer Teekanne (Kornblumenmuster) lagen acht Hunderternoten als Rolle gebündelt.

«Ich habe Geld gefunden», rief Tilly aufgeregt in Richtung Küche. «Damit könnten wir eine Woche wegfahren…»

«Spar das Geld. Oder kauf dir endlich eine gute Espressomaschine – falls du diesbezüglich ­nämlich auf das Erbe deiner Grossmutter ­spekulierst, wäre das ein Fehlschlag: Ihr ­Kapsel-Apparat hat soeben den Geist ­aufgegeben!»

Tassengeschepper kündigte Tanja an.

Die Freundin schaute sich in der dunklen Stube um: «Ist doch ganz gemütlich hier…»

Dann stiess sie einen spitzen Schrei aus: «Dort …dort hängt ein Matisse…»

Tanja lief aufgeregt zum Bild. Vorsichtig strich sie mit dem Finger darüber: «… nein. Kein Druck. Aber ich kann so nicht beurteilen, ob die Sache echt oder nur eine gut gemalte Kopie ist…»

Sie nahm ihre Freundin am Arm: «Tilly, wir ­müssen das sofort Max zeigen. Er ist Experte – ANGENOMMEN, DAS BILD IST VOM EX-FREUND DEINER GROSSMUTTER. UND ANGENOMMEN, ES IST TATSÄCHLICH EIN ECHTER MATISSE … ALSO DANN KÖNNTEST DU IHN VERSTEIGERN LASSEN. REISEN, STUDIEREN UND 100 000 KAFFEEMASCHINEN KAUFEN!»

Die beiden Frauen schauten flehend zur ­vergilbten Stubendecke: «ACH, LIEBER GOTT, MACH DOCH, DASS DAS BILD ECHT IST UND…»

Wir wollen die Geschichte hier stoppen.

Und natürlich sollten wir IHN gerade vor der Weihnachtszeit nicht allzu stark stressen. ER hat eh schon den Kopf voll.

Aber die Adventszeit steht vor der Tür – und da darf jeder mal auf ein Wunder hoffen.

Hoffen wir also für Tilly…

Montag, 28. November 2016