Tod eines Cocktails

Der Kellner balancierte das Glas mit eisgekühltem Grenadinesirup an den Tisch.

Der Barmixer hatte den Drink mit einen Schuss Kirsch gewürzt. Dann steckte er einen Limettenschnitz an den verzuckerten Glasrand. Im ­purpurroten Getränk schwammen zwei ­Orchiedeenblüten: «ERNEST» – so wurde der Longdrink in ­Fachkreisen genannt.

ES WAR DIE ETWAS VERSPIELTE ART, WIE MONSIEUR DE LA CAVE SEINEN DRINK MOCHTE.

DIES SEIT BALD 50 JAHREN.

Monsieur Ernest war es schliesslich auch, der dem Gesöff den Namen gegeben hatte. «Ernest» kursierte in allen Grandhotels auf der Bar-Karte. Meistens unter «Cocktails». Und nie dort, wo der Drink eigentlich hingehörte – unter ­«Horror-Drinks».

Ernest de la Cave war in allen grossen Hotels ­dieser Welt bekannt. Die Concierges umflatterten ihn wie die Mücken die Strassenlaternen: «Schön, dass Sie uns wieder beehren, Monsieur de la Cave... die Suite ist bezugsbereit... dürfen wir Ihnen zum Welcome Ihren Grenadine-Drink ­offerieren?»

Sie durften.

Ernest setzte sich derweilen in die Hotel-Lobby. Blinzelte durch seine Brillengläser. Und seufzte zufrieden: «Wieder daheim!»

Er seufzte dies in allen Hotel-Lobbys. Und immer mit einem verzuckerten «Ernest-Drink» in den Händen.

Ernst Keller war Bankbeamter. GEWESEN – muss man sagen.

Keller betreute die «mittelschweren» Kunden. Legte deren Geld in Wertpapiere an. Und dies zu einer Zeit, als die Aktien abdüsten wie Schweizer Luftwaffen-Jets.

«Weshalb nur für die andern?» – dachte sich Ernst. Zweigte ein bisschen Geld von den ­Kundenkonten ab. Spekulierte. Und ab ging die Post.

Nach einem halben Jahr hatte er seine ersten zehn Millionen.

SO WAR DIE BÖRSENWELT DAMALS: ALLES IN BUTTER.

Er legte die Hälfte in sichere Werte an. Mit der andern Hälfte spekulierte er auf Hochrisiko. Resultat: 30 Millionen.

Er schob das «geliehene» Startkapital wieder auf die Kundenkonten zurück.

Dann erfüllte sich Ernst Keller seinen Traum: ADIEU BANKENWELT – BIENVENU IN DEN VORNEHMEN HOTELS DIESES ERDBALLS!

Monsieur Ernest bereiste alle Kontinente. Er stieg nur in den besten Hotels ab. Und genoss es, einen Monat lang im roten Salon des Pariser «Ritz» und den nächsten in der ledernen Lounge des ­Londoner «Savoys» zu residieren.

Da «Ernst Keller» für diese Etablissements einfach zu banal tönte, machte er «Ernest de la Cave» ­daraus.

Im Pass stand noch immer «Keller» – aber an den Fünf-Sterne-Hoteldesks dieser Welt ist man Spinner gewohnt. Und bedankt sich für das fette Trink­geld: «BIENVENU MONSIEUR DE LA CAVE!»

Monsieur Ernest machte sich nichts aus Kultur, und den Städten, die er besuchte. Er liebte nur deren Hotels. Und er liebte es, in den eleganten Hallen Menschen zu beobachten: «Es ist, als würde ich die Welt in meine Stube einladen» (so hatte er einmal einem Chef de Bar verraten).

«Monsier de la Cave – Ihr berühmter Cocktail», trompetete der Kellner, als würde er die Queen ankündigen.

Monsieur Ernest antwortete nicht. Er stierte lächelnd zum Kronleuchter.

Der Kellner schritt gelassen zur Rezeption: «Der Keller von Suite 12 ist tot – gebt der Bar Bescheid, man könne die Orchideen abbestellen...»

Sie trugen ihn auf dem Lobby-Sessel in den Gepäckraum. Kaum einer drehte sich nach ­«Monsieur de la Cave» um.

So starb nicht nur Ernst Keller. Sondern auch sein schrecklicher Cocktail «Ernest».

Montag, 26. September 2016