Nachtmusik

Trude fläzte auf dem Sofa.

Sie hielt die Augen geschlossen. Auf ihrem CD-Player nahm Birgit Nilsson eben die extremen Höhen zur Arie der Turandot.

Die Likörgläschen hinter der Buffetscheibe ­schepperten empört. Trude liebte Turandot. Trude liebte auch Likör. Plötzlich wurden die schneidenden Höhen der Sängerin durch grelle elektronische Töne unterbrochen. Die dumpfen Schläge einer Bassgitarre brachten die Likörgläser zum Tanzen. So auch Trude.

«DIESE VERDAMMTE BRUT!» – tobte sie, «DIE HABEN DOCH EINEN AN DER WAFFEL! ES IST ELF UHR. N A C H T S!»

Vor 40 Jahren war Trude in das alte Stadtpalais eingezogen. Keiner wollte die vergammelten Wohnungen in der City haben. Aber sie waren ­billig. Und für Trudes Budget ideal.

Damals wohnten etwa 30 Familien im riesigen Häuserkomplex. Bis die Lage top wurde. Und der Mietzins verfünffacht.

Das Resultat: Kein Normalsterblicher hauste mehr hier. Man vermietete die Wohnungen jetzt als Büros oder Praxen an Advokaten, Physiotherapeuten, Psychologen. Diese wiederum fuhren am ­Feierabend in ihre ländlichen Schlafstädte.

Trude blieb. Sie leistete sich den Luxus: Stadtzentrum… die Plattensammlung (vorwiegend Puccini). Und den Likör (vorwiegend Cointreau).

DOCH DANN KAM DIESE JUNGBAND!

Sie hatte die Jüngelchen von ihrem Stubenfenster aus gemustert: zerfetzte Jeans. Haare bis zum Gürtel. Bunte Latschen, die jeder Clownsnummer Ehre gemacht hätten. Die Burschen schlichen durch den Hof. Umso heftiger war dann ihre Musik – sie jaulte aus dem Kellerfenster, als ­würden tausend Katzen Elefanten gebären.

Natürlich beschwerte sich Trude. Zuerst bei den Jungen (bestimmt). Dann bei der Verwaltung (scharf). Dann auf dem Polizeiposten (anklagend). Sie bekam immer wieder denselben ­Schlager zu hören: «WAREN SIE NIE JUNG, GUTE FRAU!» Die «gute Frau» konnten die sich gerne alle mal am Arsch abwischen.

Jedenfalls schleppte nun Trude ihren CD-Player ans Fenster. UND STELLTE BIRGIT NILSSON AUF HÖCHSTFORM.

Jetzt schepperten auch die Mineralwasser­flaschen in den oberen Physio-Studios.

Die Burschen kamen aus dem Keller gejagt: «Sie haben doch ein Loch im Keks!» – grinsten sie zu Trude. «Was soll der Shit!»

«DER SHIT IST PUCCINI, MEINE HERREN! ...TURANDOT …UND DIE WILL ICH JETZT GENIESSEN!» Die Burschen hockten sich auf die leeren Parkplätze im Hinterhof. Sie hörten Birgits langem, hohem E zu. Dann polterte die Polizei in den Hof. Und machte Puccini ein Ende.

«SCHEISSBULLEN!» – knurrten die Jüngelchen.

Trude beruhigte sich mit Cointreau.

«Was ist das?» – fragten die Jungmusiker.

«SPEED FÜR ALTE WEIBER», blaffte Trude. Und gab die Flasche herum.

Die Flasche wurde dann so etwas wie die ­Friedenspfeife. Man einigte sich: Turandot an den ungeraden, Bandproben an den geraden Tagen.

Die UNO hätte von ihnen lernen können.

Fünf Monate später sass Trude in einem dieser angesagten Hip-Clubs in Zürich.

Ihre Buben waren total weg vom Fleisch gewesen: «STELL DIR VOR, TRUDE… IM ROCKCAFE… DAS IST DER DURCHBRUCH!»

Der Manager des Clubs, ein gewisser Freddy, kam nach dem Konzert auf sie zu: «DIE KERLE SIND EINE SENSATION… ICH NEHME SIE UNTER VERTRAG… SIND SIE DIE GROSSMUTTER?»

Trude wollte diesem Herrn Burger eben sagen, wo er die Grossmutter mal könne … da strahlte der sie an: «UND HABEN SIE DAS GEHÖRT? …IMMER WIEDER VERÄNDERTE ­PUCCINI-TAKTE … IMMER WIEDER DIESE TURANDOT-VARIATIONEN … DAS IST EINFACH GENIAL! … WAS DARF ICH IHNEN OFFERIEREN?»

«Haben Sie Cointreau?», fragte Trude.

Montag, 18. April 2016