Von Fussballfrust und Rassismus…

Sie schluchzten kaum hörbar. Ich stellte einen etwas angelaufenen Schokohasen vor sie hin. SÜSSER «MUTTU NIT TRAURIG SEIN»-TROST.

Sie weinten noch immer.

«JA SPINNT IHR DENN JETZT TOTAL?!» – Ich frass den Hasen selber auf. Und schaute meine beiden Vettern strafend an: «HABT IHR SIE NOCH ALLE? WEGEN EINES VIZEMEISTERTITELS IM ­CUP-FINAL GEHT DIE WELT NOCH LANGE NICHT UNTER …»

Jetzt heulten sie richtig auf. Wie Wölfe, denen man die Eier abgeschossen hat.

Ich meine: Da knallen sie in der Ukraine ­einander die Birnen ab. In Afrika sterben die ­Menschen, weil sie kein Wasser haben. Sämtliche meiner Teerosen haben Blattläuse. UND DIESE WICHSER SPÜREN SICH NICHT MEHR WEGEN EINES BANALEN 0:2!

Thommy und Markus hatten sich das ­Cup-Final-Spiel an der Kiste angeschaut. Drei Mal haben sie mit den halb vollen Bierbüchsen nach dem Schiedsrichter geworfen. DA SCHÄUMTEN NICHT NUR DIE GEMÜTER. Und alles auf ­meinem neuen Spannteppich!

MAN WEISS JA, WAS KOMMT, WENN DEN BASLERN DIE GÄULE DURCHGEHEN. UND DANN NOCH BEI ZÜRICH. Aber manchmal muss ich mich über die menschliche Seele doch sehr wundern.

Wir geben Milliarden für Präventionen gegen rassistisches Verhalten aus. Wir therapieren mit Sozialpädagogen. Und wissen, dass «Neger» ein politisch unkorrektes und schrecklich wüstes Unwort ist. Alles hält sich daran. Und redet von «den lieben Menschen mit den starken ­Pigmenten». Oder bei Schwulen von den «guten Anders-Orientierten».

NUR BEI «ZÜRICH» HILFT IN BASEL SCHON SEIT JAHRHUNDERTEN AUCH DIE PRÄVENTIVE RADIKALKUR NICHTS.

«Diese Armleuchter!», schluchzt Thommy in sein total zerfetzte Kleenextuch.

«… weshalb ausgerechnet solche ­Limmat-Würste!», jault Markus. (Sie haben ­natürlich wüsteres Vokabular verwendet. Aber es gibt Grenzen. Auch im Journalismus.)

Innocent schaut von seinem Sudoku hoch: «Der FCZ hat eindeutig besser gespielt!»

Innocent versteht ähnlich viel von Fussball wie ich. Aber der Gescheite schweigt. Und das ist nie Innocents Stärke gewesen.

Entsprechend geht jetzt die Post ab: «Was kapierst du Pfeife denn schon von einem Foul? DIESER SCHEISS-SCHIRI WAR KLAR GEKAUFT. WIR HABEN HIER ZUSTÄNDE WIE IN MOSKAU …»

«Die Zürcher waren 90 Minuten eindeutig besser …», beharrte mein Freund. Und legte das Sudoku zur Seite, «… und somit ist der Sieg mehr als verdient. Amen!»

WIEDER GEBRÜLL. Und beinahe hätten meine Vettern auf den knapp 80-Jährigen eingeboxt, wie Tante Annekäthi auf Onkel Alphonse, wenn der sich ein fünftes Gläslein vom Kirsch gönnte.

Familie eben.

Ich versuchte zu schlichten: «Jetzt kriegt euch alle wieder ein … IN DER KÜCHE STEHT NOCH EINE HALBE APFELWÄHE …» Die Vettern schauten mich so wütend an, als hätte die Apfelwähe 2:0 verloren!

Ach Gottchen. Vielleicht kapiere ich diese Fussballwelt eben doch nicht so ganz … Ich meine: Ist mir doch so etwas von schnurz, wer jetzt diese Hochglanz-Metallvase stemmt. Und dieses ständige Geschrei und Geschreibse in den Medien darum ist mir eh ein Rätsel. HAT DER MENSCH KEINE ANDEREN INTERESSEN MEHR, ALS DEM NÄCHSTEN EINEN INS GOAL ZU HAUEN?!

DA FÜHLT MAN SICH MIT SEINEM ­STRICKZEUG AUF DER SCHOSS IN DER ­MUTTENZER KURVE SCHON SEHR EINSAM!

Bereits als Kind habe ich meinem Vater fussballtechnisch nicht folgen können. Er schleppte den bildschönen Buben an jeden Match. Schon damals waren alle Schiedsrichter, die gegen seine Mannschaft gepfiffen haben «RIESENARMLEUCHTER!» (auch hier griffen die durchrüttelten Nerven zu einem stärkeren Wortschatz, dessen Ausdrücke wir nicht wiedergeben möchten).

Wenn «UNSERE» dann mit einem Goal in ­Führung gingen und der Vater ergriffen sein Kind umarmte – «Was sagst du jetzt, mein Junge?» –, da konnte der Kleine nur sonnig strahlen: «Bekomme ich jetzt zwei Zuckererdbeeren mit Glasring am Stiel?» Da war der Jubel über das Goal schnell verstummt.

Später begann ich Fussball richtig zu hassen. Immer wenn unser Lehrer Maag die Klasse aufforderte, zwei Mannschaften zu bilden, war Hugo Abächerli der Führer von den Blauen. Und Hansi Rot der von den Roten.

Hugo und Hansi waren das Dümmste, was die alten Schulbänke je haben auf sich sitzen lassen müssen – aber sie kletterten wie Wiesel die Eisenstangen hoch. Und sie übersprangen das Lederböckli mit Überschlag. Also waren sie prädestiniert, eine Fussballmannschaft auf die Beine zu stellen. Und sich ihre Spieler zu wählen.

Es war nicht sonderlich motivierend, einfach nur dastehen zu müssen und nicht aufgerufen zu werden. Turnlehrer Maag brüllte schliesslich: «EINER MUSS IHN NEHMEN!» – «ICH NICHT!», schrien Hansi und Hugo wie aus der Pistole geschossen. SO ETWAS KANN EINEM DIE FREUDE AN FUSSBALL SCHON AUF IMMER VERGÄLLEN.

Es gab immerhin jenen unvergesslichen Moment, wo ein bisschen Freude aufkam, weil mein huschiger linker Fuss den Ball erwischte. Und diesen bravourös ins Goal schoss …

RIESENGEBRÜLL. Auf beiden Seiten. Denn leider hatte ich ins eigene Tor gezielt. (Noch heute wechselt Hansi – jetzt pensionierter Regierungsrat – das Trottoir, wenn er mich kommen sieht …)

«Wir haben ja noch die Meisterschaft …», ­versuche ich bei meinen Vettern einen Hoffnungsschimmer am Horizont aufzuzeigen.

«Hol endlich die Apfelwähe …», jaulen beide auf. Aber die hatte bereits Innocent verputzt. Diese drei Punkte gingen an ihn.

«Es sind im Fussball drei Punkte, lieber -minu!» – der verantwortliche Korrektor (FCB-Fan).

Dienstag, 6. Mai 2014