Von Tina Hörner und dem Maschendrahtzaun

Donnerstag Als Tina mir ihren ersten Besuch abstattete, wusste ich noch nicht, dass es Tina war.
Sie stand ganz einfach im Garten, bückte sich nach meinen blauen Glockenblumen. Und «goooohts no...!», rief ich erbost.
Da schaute mich Tina mit braunen, grossen Augen treuherzig an. Sie leckte verspielt die Lippen. Beugte sich wieder zu den Blumen.
UND WEG WAREN SIE!
«Du elende Kuh...!», tobte ich.
WIEDER DIESE AUGEN. WIEDER DIESER BLICK. Jetzt ging Tina wortlos zu den Rosen über...
«IIIINNNOCEEEEENT...!»? man hörte mich bis zum Höchst des Kuonisberglis. Nur Innocent hörte nichts. Seit drei Tagen sucht er nach seinen Ohren. Vergebens.
Und obwohl ich ihn mit Ginkgo-Blättern füttere wie das Karnickel mit Rüben, ist sein Gedächtnis noch schwächer als sein Gehör.
Übelhörigkeit geht da gleich mal mit Übellaunigkeit im Gleichschritt. Auf meinen gut gemeinten Rat «überleg doch mal, wo du sie das letzte Mal hingelegt hast» explodiert er genervt: «Wenn ich das wüsste, würde ich sie ja wohl nicht suchen, du Depp!»
Ich also: «IIIIINNNOCEEEENT Ginkgo!»
Mein Hilferuf hat einige Lawinen beim Wildstrubel ausgelöst. Nicht aber Innocent.
Ich jage in sein Zimmer. Da sitzt er schlafend vor dem Fernseher? der Bildschirm zeigt sechs siebengescheite Intellektuelle, welche sich über die homophile Neigung von Thomas Mann auslassen, als wären sie selber dabei gewesen. Ich rüttle Innocent wach. Der: «... wann kommt Beni Thurnheer?»
Ich (brüllend): «Der kommt gar nicht mehr. Der gibt ab. Aber es kommen ganz andere Dinge auf uns zu? EINE KUH IM GARTEN! SIE IST BEREITS BEI DEN ROSEN!»
Innocent juckt auf. Greift sich an die Ohren. Tut, als müsse er die Lautstärke regulieren. Und brüllt zurück: «Eine Kuh? Ja bist du sicher...?»
«NEIN. VIELLEICHT IST ES EIN NASHORN», antworte ich gereizt.
Schon stehen wir im Garten, wo Tina eben zum Lavendel wechselt.
«DAS KOMMT VON DEINER HAG-IDEE!», gebe ich Innocent Saures.
Er war es, der den Maschendrahtzaun meines Vaters als «schrecklich bünzlig» verschrie. Vater war noch nicht kalt, da rupfte Innocent alles weg.
Nun sind wir nackt und schutzlos inmitten der wilden Weide allen äussern Einflüssen ausgeliefert.
AUCH BLUMENFRESSENDEN KÜHEN.
«Man hat ohne Zaun viel mehr Luft... mehr Freiheit... all diese Alpenwelt gehört dir... du bist jetzt mittendrin...»
JA. UND DIE KUH AUCH!
Aber es hat keinen Sinn, mit Innocent über Hage zu diskutieren. Die Diskussion sollte sich vielmehr um die Frage drehen: WIE BEKOMMT MAN EINE KUH VOM SALAT?
Nun hat die Beste nämlich von den Lavendelstengeln zu den Salatköpfen gewechselt. Lavendel waren nicht ihr Ding. Beim Salat scheint dies anders zu sein. Ihre Magensäfte ergiessen sich in Vorfreude literweise über das Gemüsebeet.
Das Ganze ist übrigens das Gemüsebeet meiner Tante Nettchen. Und deren ganzer Stolz. Das Beet ist nicht grösser als eine dieser Kreiselinseln, vor denen man jedes Mal in Panik gerät, weil die Vorfahrtsregeln so kompliziert sind. Nettchen pflanzt Salat an. Ihre grosse Liebe gilt den knackigen, prallen Köpfchen. Leider hat sie auf diese Liebe kein Monopol. Auch die Schnecken entflammen bei den chlorophyllprallen Blättern.
Und Nettchen schickt die Schleimer mit blauen Körnern ins Jens- wie Offside.
Tina aber spuckt als eingefleischte Vegetarierin die Schnecken aus und ist (ISST!) bereits am dritten Salatkopf.
Dann hören wir Stimmen: «JA HEITEREFAHNE!? DU BISCH MER NO ES DUNNERS CHUELI!»? es ist Oesters Göpfi, der in gemächlichen Schritten durchs Gras stampft. Energisch packt er die Kuh bei den Hörnern: «Du hesch doch hie minertüri nüt z sueche.» Dann zu uns: «Dasch de d Tina. He gäuit, ig bi e grosse Fän vo dr Törner, däm heisse Wybervölchli... u drum isch das da myni Tina Hörner.»
Noch einmal bückt sich Tina zu einem Salatblatt.
Noch einmal spuckt sie Schnecken aus? ABER DIESE SCHNECKEN PFEIFEN. SIE MACHEN DIESES ÜBERIRDISCHE GERÄUSCH VON SINGENDEN MARSMENSCHEN, DAS OHRENVERSTÄRKERN SO EIGEN IST.
«Innocent? hier sind sie! Tina hat deine Ohren gefunden!»
Es herrschte Jubel. Und Verbrüderung. Und die Kuh Tina wurde in den Kreis der engsten Freunde aufgenommen.
«Wollen wir nicht wieder rumhagen?», mache ich abends Innocent auf einen Maschendrahtzaun scharf. «Bei aller Liebe zu Tina? aber Tante Nettchen wird uns die Köpfe ausreissen, wenn sies schon beim Salat nicht mehr kann!»
«Papperlapapp!», schüttelt Innocent den Kopf.
Und erklärt sich: «Wir sind mit unserer Verwandtschaft eh am Hag. Beim Kopfsalat war es, als mir Nettchen eine Stunde lang das Lied der bösen Schnecken vorgejammert hat. Da habe ich einfach die Apperätchen rausgenommen.
UND ES HERRSCHTE RUHE... nur Weide... Natur... Freiheit!»
«Nimm ein Ginkgo-Blatt», sage ich.

Donnerstag, 30. Juli 2009