Von Nandos letzter Fahrt auf dem Meer und Zigarren

«Fahr einmal mit mir... du wirst es nie vergessen!»
Nando lutschte an seiner kalten Toscanello herum. Die Zigarre hatte die Farbe eines verkohlten Eichenfasses? DIE ZÄHNE VON NANDO DIEJENIGE DER TOSCANELLO.
Nando ist wohl der älteste Fischer, den Porto Ercole in seinem Meldeamt führt. Schon sein Grossvater und dessen Grossvater und dessen Grossvater... man kennt ja diese Inzuchtgeschichten. Es sind immer wieder Fischer rausgekommen...
Seit ein Spezialistenteam in der Provinzhauptstadt Grosseto Nando in diese Röhre einführte wie der Bäcker die Pizza in den Ofen? seit Nando da durch moderne Technologie in Millionen von virtuelle Scheibchen zerlegt worden war, SEITHER ISTS AUS MIT TOSCANELLI! Der grosse STOPP im Raucherleben eines 89-Jährigen! In einem der Röntgenscheibchen war ein Karzinom festgestellt worden? winziger als ein Krakenauge. Aber immerhin. Die Mediziner verzichteten mit Respekt auf Nandos Alter auf Chemotherapie. Sie spritzten jedoch weibliche Hormone in seinen Körper, um die noch recht aktive Testosteronproduktion zu stoppen. In der Folge begann die Männlichkeit zu schrumpfen. Kurz: Sex war vorbei. Und andere Freuden auch? ÄRZTLICHE VERORDNUNG: KEIN PAFFEN MEHR!
Mimma, seine Ehefrau, kontrollierte den Alten wie eine Überwachungskamera? nicht ganz so lautlos. Nein. Immer mit Gejammer und Kreuzschlagen: «Oh Madre santa mia, weshalb bürdest du mir dieses Los auf? Er hat gestern schon wie ein abgefackeltes Fischerboot nach Rauch gestunken! Was nutzt es, wenn sie ihn für teures Geld eine Frau werden lassen und alles dann heimlich in Rauch aufgeht...», so schwatzte sie stundenlang dummes Zeug, sodass es Nando nur auf dem Meer richtig wohl war. Hier konnte er unkontrolliert mal Feuer an die Toscanello legen. Und mit seinen tränenden Augen auf die Wellen stieren? diese Wellen, die ihn (wie er seinen Fischerkollegen immer wieder versicherte) nie enttäuschen würden. Sie hätten ihn als Kind in den Schlaf geschaukelt. Ihm als jungem Mann die Frauen in die Arme geworfen. Und jetzt, da er wohl irgendwann mal auf Grund auflaufen werde, würden sie ihm jeden Tag Trost zuflüstern. Er wünschte sich, dass sie sein Fischerherz auf den letzten Weg mittragen würden...
Es war im vergangenen Jahr, als ich? wie oft an einem Abend? in Teresas Bar Sirenetta auf die Fischer wartete, um mir bei Nando einen fangfrischen Dentice zu holen. Weisse Möwenwolken kündeten mit hysterischem Lachen die Boote an. Bald schon wurden die Kisten mit den noch wild zappelnden Langusten und Scampi, Orate und Spigole an Land gewuchtet. Der Fang wurde auf eine Waage gestellt. Und von den herumstehenden Händlern, welche die Hoteliers aus Rom oder Florenz jeden Abend auf die Insel schicken, ersteigert.
Da gehen dann frische Langusten in der Farbe von bläulicher Tinte und gross wie Suppenkellen schon mal für 120 Euro das Kilo weg. Sie landen in Luxusrestaurants auf den Tellern von reichen Russen oder Amerikanern? der dreifache Preis hat sie schamvoll erröten lassen. Dazu Zitrone. Und «Arrivederci Roma» ab Gitarre.
«Fahr einmal mit», hat Nando mir damals angeboten, «du wirst es nie vergessen! Wir starten um 3 Uhr morgens!» So ist das Landei ahnungslos mitten in der Nacht auf das schaukelnde Boot gestiegen. Kaum war das Ufer nur noch eine funkelnde Perlenkette von Lichtern, schnorrte Nando eine meiner Zigarren. Er hockte sich in einen zerschlissenen Liegestuhl. Stierte wortlos aufs Meer. Und genoss jeden Zug. Seine Leute legten die Netze aus. Es waren Philippiner. «Fischer gibts hier schon lange keine mehr. Nur noch die paar alten Familien», knurrte der Alte.
«Weshalb vererbt ihr eure Tradition nicht an die Jungen?», fragte ich. Nando zuckte mit den Schultern: «Sie ziehen weg. Sie mögen den Fischgeruch in den Hemden nicht. Sie wissen, wie man einen Computer auseinandernimmt? und haben noch nie einen Merluzzo zerlegt.» Stunden später zogen die Fischer die Netze ein. Es war, als hätte ein Krösus zwei Tonnen mit nervös zuckelndem Tafelsilber auf dem Holzboden ausgeschüttet. «Du kannst beim Filetieren helfen!», brummte Nando und zündete sich erneut eine meiner Zigarren an. Und ich drehte einen Tag lang kleinen Gamberetti in der rosigen Farbe von Flamingofedern den Kopf ab und streifte die Schale vom zarten, glitschigen Fleisch.
«Es ist wohl gut, dass wir keine einheimischen Fischer mehr haben», schaute Nando nun von den Wellen auf. «Früher haben wir das Fünffache herausgezogen... Das Meer ist heute ausgefischt... Zukunft hat nur noch diese Zucht mit den Bassins so gross wie Mondkrater.» Er schnaubte verächtlich: «Für diese aufgeblasenen Dentici und Spigole, die in drei Wochen so dick und schwer werden wie ein normaler Fisch in vier Jahren? also für diesen Fischfang braucht es keine Boote und keine Fischer mehr. Nur noch Chemiker. Und Schlachter.»
Dieses Jahr habe ich vergeblich am Hafen auf Nandos Boot gewartet. Seine Witwe führte mich zu einem Stein an der Mole. Dort lagen ein paar verwelkte Astern. Auf dem Stein war Nandos Name eingemeisselt. «Irgendwie wollte er einfach nicht mehr!», weinte Mimma. «Er ist an einem stürmischen Morgen aufs Meer hinaus. Seine Leute sagen, er habe kein einziges Wort gesprochen. Nur auf die Wellen gestiert. Und seine Toscanelli geraucht.» Sie wischte mit einem zerknüllten Taschentuch die Tränen weg. «Als sie im Hafen einfuhren, sass er noch immer in seinem Stuhl. Aber die Wellen hatten seine Seele mitgenommen.» Sie büschelte eine der welken Blumen zurecht. «Wir haben ihn nach seinem Wunsch dem Meer zurückgegeben.»
Was sollte ich da noch sagen?
Ich legte eine Zigarre zu den müden Astern. Und kaufte einen der Zuchtfische.

Samstag, 15. Oktober 2011