Von Mister Wong (virtuell) und Victor (live)...

Donnerstag Als Victor anrief, vibrierten meine Alarmgene. IN MIR SCHRILLTEN DIE NOTGLOCKEN? und «DANGER... DANGER» blitzten Millionen von Rotlichtern im Vorderhirn.
Als ich Victors Stimme dann aber mit diesem sonoren Timbre «HALLO SCHNURZEL» sagen hörte, da hats gleich alle Sicherungen durchgeknallt. Sämtliche Warnsignale erloschen auf einen Schlag. Und ich hörte mich sagen: «Was brauchst du?»
Victor, das Kücken unter meinen Patenkindern, ist ein Problem. Er ruft nur an, wenn er etwas braucht.
DAS IST NICHT DAS PROBLEM. Da ist er wie alle anderen auch. Wer als Schublade der Nation auf die Welt kommt, muss sich nicht wundern, dass er immer nur gezogen und bloss selten liebevoll geölt wird. Dies zum Thema «Du lässt dich ausnutzen? nur dumme Menschen lassen sich ausnutzen!» (Innocent, Psalm 3).
Nein. Bei Viggi? wie ihn seine Eltern törichterweise nennen, denn hättet ihr mit 15 Lenzen gejauchzt, wenn man euch «Viggi» gerufen hätte?!! O.k. Es ist ein V wie W ausgesprochen. Aber eben doch verfänglich. Aber ich komme vom Thema ab? bei Viggi tickt etwas anders.
Nicht, dass er der Typ wäre, der kettenbehangen mit Glatzkopf und Lederoutfit rumproleten würde. Er trägt auch keine Netzstrümpfe oder Reizhöschen und ist in all seinen Fächern guter Schnitt. ABER SEINE WELT FINDET VIRTUELL STATT.
Er trifft sich mit seinen Freunden im Internet. Chattet über Provider-Probleme. Und hat eine Zweitidentität in einem Spiel, das die Cyber-Welt «wonderful planet» nennt. Hier ist mein Viggi als «Mister Wong» ein Begriff. Er, der zu Hause kein Spiegelei selber in die Pfanne haut, betreibt virtuell einen chinesischen Nudelladen samt Hauslieferungsservice. Mister Wong ist mehrfacher Milliardär (chinesische Glasnudeln sind Gold wert). Der reale Viggi hingegen ist mit seinem Sackgeldvorschuss bereits im pekinesischen Jahr der Sau (und das ist 2019) angekommen.
Tage- wie nächtelang sitzt Victor vor dem Bildschirm und saugt sich diese wirre Fantasiewelt ein. Manchmal geht es so weit, dass er in der Lateinarbeit mit «Mister Wong» unterschreibt und in der 10 Uhr Pause beim Abwart statt ein Fitness-Brötchen «fried rice with chicken? sweet and sour» verlangt.
Na, drei Mal dürft ihr raten, wer da mehr sour als sweet ist. Der Abwart beklagt sich bei den Lehrern, «Viggi» ticke nicht ganz richtig und er würde sich nicht wundern, wenn der mal mitten aus der Schanghai-Mafia raus verhaftet würde.
Die Lehrer gebens brühwarm an die Eltern weiter. Und die Eltern weinen sich bei mir aus. In der Zwischenzeit nudelt Viggi virtuelle Millionen als Mister Wong.
Und jetzt also Anruf seinerseits. Und «Hallo Schnurzel!»
Tausend Mal schon habe ich ihm gesagt, er solle mich «Hanspeter» , «lieber Pate» oder dann halt «Daisy» nennen? ABER NICHT SCHNURZEL!
Seine Stimme ist wirklich eine Wucht? wenn er nicht schon den Nudelladen hätte, könnte sich Viggi problemlos zum Starbariton ausbilden lassen. Aber so klingt sein Bariton nur ganz alleine für mich: «Ich brauche deinen Rat. Wie mache ich das mit einem Mädchen richtig, ohne gleich wie eine rasierte Meersau dazustehen?» Oh JAMMERTAL!
Viggi hat seinen chinesischen «Take away» geschlossen: CLOSED? WEGEN INNERER UNRUHE. Die Pubertät kocht heisser als das Nudelwasser. Und nun kommt er zu mir und will wissen, wie man ein Chicken flachlegt.
DA BIN ICH ABER NUN WIRKLICH DIE FALSCHE ADRESSE!
Haben seine Eltern ihn nie über Schnurzel und auch sonst aufgeklärt?! Und soll ich nun bei den Bienen anfangen?
«Nun denn», zögere ich, «ein Fraueli ist ein ganz besonderes Wesen und...» Sarkastische Zwischenbemerkung: «WAS DU NICHT SAGST?!»
O.k. Das ging daneben. Deshalb: Hast du denn schon mal irgendwelche Erfahrungen buchen können?»
«NULL!? na ja, mal beim Pizza-Kurier! Rein virtuell und aus Interesse an der Konkurrenz... Du weisst ja...»
Viggi treibts über den Bildschirm mit dem Pizza-Kurier. Na ja? das ist sicher nur eine pubertäre Verirrung. Das wird sich wieder geben. Und hat sich ja scheinbar bereits, denn: «Sie heisst Sheila!»
«Oh Sheilalalalala...», versuche ich mit etwas Fröhlichkeit. «... ihre Eltern kommen aus Korea, und sie geht in meine Parallelklasse.»
«Vielleicht solltest du sie nicht drängen...», versuche ich das Unglück über einer koreanische Familie abzuwenden. «Frauen sind sehr sensibel und müssen zart erobert werden...»
Nun flieht der Bariton leicht ins Tenorfach: «Hör mal, du Pumpe? es geht nicht darum, ob ich die Kleine flach legen soll. Dafür brauche ich keine Ratschläge. Schon gar nicht aus der Senioren-Liga. Ich will ganz einfach nur wissen, wie und wo ich Sheila schön ausführen kann, ohne in ihren Augen gleich wie ein Depp dazustehen...»
Für einen kurzen Moment lag mir «Mister Wongs Nudel-Restaurant» auf der Zunge. Dann gab ich mir einen Ruck: «O.k. Ich koche euch Dampfnudeln.»
Zwei Sekunden herrschte Stille. Schliesslich kam der Bariton ziemlich eisig: «Nein danke, Hanspeter!» Und aufgehängt.

Donnerstag, 28. August 2008