Von Minuzze und der heiligen Agatha

Catania? das ist immer ein Hauch von Tristezza. Oper. Drama. Schwarzer Schluss­­vorhang. Du wirst von einem Vulkan begrüsst, der den frittierten Spitzbergen (Reisköstlichkeiten? mit Ragout oder Mozzarella-Spinat gefüllt) den sizilianischen Namen «Arrancini» gegeben hat.
Je nach Jahreszeit trägt der Ätna einen langen, weissen Mantel ? oder wie jetzt, wenn die Jasminbüsche ihre schweren, süssen Düfte verbreiten, lediglich einen aufgerüschten Schneekragen. Aber die gigantische Steinpyramide dampft dir Tag und Nacht entgegen ? wie ein übervolles Fumoir. Oder wie Onkel Alphonse, wenn er zur Begrüssung mit einem Rösslistumpen zwischen den gelblichen Zähnen die Arme ausbreitete. Und auf dem senfgelben Spannteppich stets ein Gütschlein Asche verlor (Tante Julchen: «ALPHONSE ? ICH SAG ES NICHT GERNE VOR DEN KINDERN: ABER DU BIST EIN SCHWEIN!»).
Die Stadt wirkt schwarz wie eines dieser modernen Theaterstücke, das dem Menschen auch keine Hoffnung gibt. Irgendwo holt dich diese Traurigkeit dann ein. Sie ist eingebettet in Bellinis Töne, die als honigfarbene Melodien ein bisschen Gold in die Lavastadt bringen ? in diesen Ort, der dem Komponisten zu Ehren eines der schönsten Opernhäuser der Welt erbaut hat. Und wo die Callas seine «Norma» für unsere Welt wieder aus dem Musikschrank hervorgeholt und entstaubt hat.
Umberto holt mich ab. Er ist das, was in Zürich das Leben ausmacht: BANKER. Allerdings ohne Boni. Ohne Zulagen. Sondern mit einem Monatslohn, der etwa halb so hoch ist, wie ihn bei uns der gewerkschaftlich organisierte Buschauffeur heimkarrt.
Mit dem Geld hält Umberto die Familie über Wasser: einen arbeitslosen Bruder mit zwei Kindern und einer stets quengelnden Ehefrau, die mindestens zweimal pro Woche bei der heiligen Agatha ein Louis-Vuitton-Täschchen erfleht.
Die Mutter bezieht eine kleine Monatsrente ? so viel, wie man in der Bahnhofstrasse für einen Happy-Hour-Cocktail mit Freunden hinblättert. Umberto selbst ist ledig geblieben. Er hat mit Frauen nichts am Hut («Schau dir meine Schwägerin an!»). Entsprechend erfleht die Mutter parallel zur Schwiegertochter (die mit dem Vuitton-Wunsch) bei Agatha für ihren Sohn eine liebe Frau, die es ihm bringen soll.
BRINGT ABER NICHTS.
Denn Umbertos Weg ist vorgezeichnet ? UND GOTTES WEGE SIND WUNDERBAR.
Im Februar, während sich hierzulande die Narren ins Kostüm stürzen, wirft sich Umberto ein weis­ses Gewand an, eine «camicia bianca». Sie sind mehrere Tausend Gleichgewandete, die dann die Reliquien der heiligen Agatha in einer ellenlangen Prozession durch die Stadt tragen. Wie ein blendender Fluss strömen die Gläubigen in ihren Gewändern durch die dunklen Gassen Catanias ? alles Strässchen und Winkel, die immer aussehen, als hätte jemand sie in schwarze Tinte getaucht.
Wie bei allen Heiligen ranken sich auch bei Agatha blühende Geschichten wie Glyzinien um ihre Person. So heisst es, dass sie als Tochter eines vornehmen Sizilianers im Jahre 251 ihren roten (nicht weissen!) Jungfrauenschleier nahm. Und sich IHM als Braut weihen liess.
Stadthalter Quintianus aber, ein grobschlächtiger Politiker aus Rom, trieb in Sizilien die Christen­verfolgung voran. Und liess die gottgeweihte Jungfrau in den Kerker führen. Auf dem Weg dorthin passierte ? MIRACOLO!? Wunder Nummer eins:
Agatha öffnete sich der Schuh. Sie bückte sich unter einem Olivenbaum. Und band die Sandale wieder zu. UND SIEHE DA: DER OLIVENBAUM BEGANN ZU BLÜHEN UND HATTE PLÖTZLICH FRÜCHTE. DIE WAREN SO SÜSS WIE ENGELSZUNGEN?
Und eben diese süssen Früchte werden heute von den Zuckerbäckern der Stadt noch immer zur Erinnerung an das Wunder hergestellt: köstliche Kügelchen aus zerdrückten Mandeln, Zucker, Pistazien und Honig: OLIVETTE ? SO HEISSEN DIE KLEINEN. Es sind gefährliche Bomben, die alle guten Diätvorsätze unter sich begraben.
WUNDER NUMMER ZWEI: Agatha wurde im Kerker abartig gefoltert ? etwa so, wie man es heute in diesen seltsamen Sadostreifen vorgegaukelt bekommt: AUSPEITSCHEN? GLIEDERSTRECKEN? GLÜHENDE KOHLEN AUF DEN BAUCH?
Agatha aber übersteht alles. Quintianus ist stinkesauer. Und lässt ihr daraufhin die Brüste abschneiden. ERST JETZT IST DIE ARME MAUSETOT UND AUF DEM WEG ZU IHM.
Entsprechend wird heute Agatha an allen Ecken und Enden von Catania busenlos und flach wie ein Brett abgebildet. Zur Erinnerung an die Marter aber hat man wieder die Zuckerbäcker bemüht ? sie bringen ein Küchlein aufs Blech, das sie MINUZZE nennen. Es sind eigentlich «cassatine», Cassata-Törtchen mit süsser Vanillecreme und Marzipan gefüllt sowie mit einem Zuckermantel übergossen auf dem eine rote, kandierte Kirsche als Busennippel funkelt. ZUM ANBEISSEN!
UND DESHALB GIBT ES DAS FEST FÜR DIE HEILIGE IM FEBRUAR MIT TAUSENDEN VON AGATHA-FANS. Und Umberto unter ihnen?
Apropos ? dieser führt mich in seinem holprigen Peugeot der Meeresstrasse entlang aus der Stadt. Auch hier ist die Welt schwarz. Der Strand zeigt teerfarbene Lavabrocken, Ungetüme, auf denen sich die Sonnenanbeter wie bunte Käfer abheben.
«Einst haben hier Zyklopen gehaust ? du weisst schon, diese einäugigen Riesen. Polyphem war ihr Anführer. Odysseus wurde von ihm gefangen gehalten. Da hat er den Riesen mit einem Stab geblendet, sodass der arme Polyphem gar nichts mehr sah. Wutentbrannt schleuderte der brüllende Zyklop dem Schiff von Odysseus ein paar Fels­brocken nach ? DORT SIEHST DU SIE IM MEER. DIE SCHWARZEN ZYKLOPEN- INSELN» ? «Wie konnte er denn zielen, wenn er nichts mehr sah?!» (Das war nur eine schüchterne Frage.)
Umberto schaute mich genervt an: «MADONNA! ? MACHEN WIR EINE MEDIZINISCHE ABKLÄRUNG ODER WILLST DU GESCHICHTEN HÖREN?»
«Ich will jetzt Minuzze ? und zwar drei Stück!», erwiderte ich.

Dienstag, 7. Mai 2013