Von Lügengeschichten und Seifenpulver

Wenn unsere Kiga-Tante ? heute würde man von einer Tagesmutter reden ? also, wenn unsere Kindergarten-­Tante wieder mal den Durchhänger hatte und sich eine Atempause gönnen wollte, klatschte sie in die Hände: «Sooo? ihr Racker. Jetzt erzählt uns der Hanspeterli eine schöne Geschichte.»
Der Hanspeterli war ich.
Also baute ich mich vor der Gruppe hosen­scheissender Nuggilutscher auf. Und erklärte diesen Windelpaketen, dass da eigentlich ein kleiner Prinz vor ihnen stehen würde. Drei böse Feen ­hätten ihn bei der Geburt vertauscht. Seine leib­lichen Eltern aber würden im herrlichen Paris mit sechs goldenen Kutschen herumfahren. Da gebe es im Schloss auch 28 Schimmel, die alle fliegen könnten, und einen Koch, der tagein, tagaus mit dem Backen von Marmorkuchen beschäftigt sei. Marmorkuchen war mein kulinarisches Zauberwort, wenn man von Rahmschnitzel mit Pommes absah.
«Morgen aber kommt mein Königspapa auf dem weissen Schimmel hierhergeflogen. UND DANN KÖNNT IHR MICH ALLE MAL KREUZWEISE. Er bringt mich weg zu den Marmorkuchen und ihr könnt weiterhin an euren Znüniäpfeln rum­sabbern! So? jetzt mal alle auf die Knie. Küsst dem schönen Prinzen die Zehen!»
ES WAREN GESCHICHTEN, DIE KEINE GROSSE FREUDE AUFKOMMEN LIESSEN. DER NEID PLAGTE DIE KLEINE KACKER-RUNDE.
Schon fiepte Dora Muff: «Fräulein Zürcher, ­Fräulein Zürcher? er lügt. Sein Vater ist ein ­ordinärer Sechsertramträmler. Sie haben ein altes Velosolex und keine Goldkutsche.»
Dora Muff war die Tochter eines Bügeleisen­fabrikanten. Weil sie mir aber beim Doktorspiel mal heiss an die Wäsche gehen wollte und ich sie in eisiger Panik in die Hand biss, war sie mir alles andere als froh gesinnt.
«Es ist jetzt genug, Hanspeterli», sagte das Fräulein Zürcher streng. Sie schickte mich in die Ecke. Und salbte gleich noch pädagogisch Wertvolles in die Runde: «MAN DARF NIE LÜGEN? KINDER!»
Die verschissene Runde schleimte sich mit eifrigem Kopfnicken bei der Kindergartentante ein. Diese hatte sofort Aufwind: «Und weil der Hans­peterli gelogen hat, muss er jetzt eine halbe Stunde still sein. Und dann seinen Mund mit Seifenflocken auswaschen.»
JA HALLO? IST DAS DER DANK, DASS ICH DIE DURCHGEHÄNGTE KIGA-TANTE ABSPANNEN LIESS!?
«AUJAAAA!» schrien die Hosenscheisser begeistert.
Eine halbe Stunde später schäumte der liebenswerte Geschichtenerzähler wie ein tollwütiger Hund.
Als ich zu Hause heulte: «Fräulein Zürcher hat meinen Mund mit Seifenflocken ausgespült», klatschte mir mein Vater eine Ohrfeige: «Hör auf zu lügen; wer lügt, muss in die Ecke stehen!»
Da stand ich dann wieder. Und ich darf ruhig sagen, ich habe schon als kleinstes Kind fast alle Ecken dieser Welt gesehen.
Das miese Schicksal sowie ein auswärts viel beschäftigter Vater machten mich zum Einzelkind. Ich war nicht nur einzeln? sondern auch einsam. Also flüchtete ich mich in eine ­Fantasiewelt, wo ein grosser Bruder ­vorkam. Er war Polizist. Und schützte mich vor dem Bösen.
Zu jener Zeit trugen Polizisten noch keine Kunstglas-Schilde vor und wuchtige Schutzhelme auf sich. Es waren freundliche Figuren, die uns lehrten, wie man über die Strasse zu gehen hat. Und dass jeder Mann mit Bonbons in den Händen suspekt sei.
Na ja: Polizisten waren diese Art von Männer, die meine Fantasie beflügelten. Deshalb wurden sie meine Brüder. Und wenn mich da so ein sadistisch veranlagter Primarschüler der höheren Klasse auf dem Heimweg versohlen wollte, brüllte ich: «NUR ZU! ABER WEHE, WENN DAS MEIN GROSSER BRUDER SIEHT. DER IST POLIZIST. UND HACKT DIR DEINE EIER AB!»
Da haben sich dann alle in die Hosen gemacht. Und den kleinen Buben in Frieden gelassen.
Zoff gabs erst, als meine liebe Mutter im Konsum von der Verkäuferin nach ihrem «eierhackenden Polizistensohn» gefragt wurde.
Da stand ich wieder in der Ecke. Und spie Seifenblasen aus dem ausgewaschenen Mund.
Meine Fantasiewelt begann sich mit der Realität zu vermischen. Das sah dann etwa so aus: Ich kam von der Schule heim. Und erklärte beim Mittag­essen, ich hätte gesehen, wie mein Vater im ­Führerstand des Tramwagens Frau Schneiderhahn auf dem Schoss gehabt habe und ?»
Schon holten sie die Seifenflocken.
So nahm ich es mit Familiengeschichten etwas vorsichtiger. Und fantasierte dafür ein paar Mäzene zusammen, die mich für den Film entdeckt hätten. Ich strich mir Vaters Brillantine in die Haare, färbte mit Mutters Wimperntusche meine Brauen. Und verkündete, Hollywood habe den schönen Jungen als Valentino verpflichten wollen ? natürlich sei ich diesen Kiffern zu teuer ?
Wieder gab es böse Beschimpfungen. Meine Schulfreunde höhnten: «Du bist doch durch bei Rot.» Und meine grosse Genugtuung kam erst 40 Jahre später, als ich auf dem «Walk of Fame» in Hollywood stand. Und ihnen allen eine Karte schickte: «Da seht ihr es jetzt!»
Ich verschwieg, dass ich nur dort war, um Arthur Cohns Stern zu polieren.
Es war mein Seelenklempner, Samuel Fühlsam, der nach der 33. Sitzung meinte: «Sie erzählen so spannende Dinge, lieber Freund? schreiben Sie dies doch alles mal nieder.»
Na gut. Tat ich.
UND DIE VERLEGER RISSEN SICH DARUM. Besonders um die Geschichten, wo ich mit Rudolf Nurejew ein sehr ungewöhnliches Pas de deux tanzte und Bo Katzman mir Sopranstunden gab.
«Das ist ja zum Piepen», schrieb der Kulturkritiker Marcel Reich-Ranicki in der «Zeit». Und ?
Ich sehe schon: KEINER GLAUBT MIR.
Die Ecke wartet.

Dienstag, 27. August 2013