Von Loredanas Kaffeesatz

«? l? ho detto!» ? die alte Loredana wackelt mit dem Finger. Und nickt in die Runde. «Ich habs ja gesagt!»
Das hat sie.
Immer in der Silvesternacht braut sie dieses schreckliche Gesöff, das sie arabischen ­Kaffee nennt. Sie schluckt ihn brühend heiss. Dann kehrt sie mit einem Ruck die Tasse. Und am bräunlichen Geschlirke des Satzes am Tassenrand liest sie ab, ob wir Millionäre werden oder nicht. Sie kündet uns fünf Kommunisten nach den Wahlen an, weiss, dass die Oliven dieses Jahr nicht tragen werden, und prophezeit, dass Imelda noch vor dem Fest des heiligen Stefano schwanger werden wird.
Imelda klopfte der Alten auf den krummen Buckel: «Loredana ? ich bin jetzt 46. Und meine Periode steht seit 26 Monaten aus!»
«Ich weiss, was ich weiss!», nuschelt es düster aus dem Zahnlosen. Und: «Der Kaffee lügt nie ?»
Nun hockt sie also in diesem schrecklichen Kahn, der uns übers Meer auf die Insel bringen soll. Und ihre listigen Stachelbeerenaugen blitzen triumphierend: «Ich habs ja immer gesagt!»
Tatsächlich verkündete Loredana, nachdem sie vier arabische Kaffees getrunken, die gestürzte Tasse studiert und danach dank dem Koffeinschub fast einen Infarkt gebaut hatte ? also, damals in jener frühlingshaften Silvesternacht 2012, wo wir alle in T-Shirts unter den Palmen hockten, unkte dieses Runzeltäschchen: «Ihr werdet schon noch die Frostbeulen am Ranzen ankratzen ? der ­Winter wird lang. Und bringt viel Böses ?»
ES WAR GENAU DAS, WAS WIR IN DIESER LAUEN SILVESTERNACHT HÖREN WOLLTEN. Deshalb lachten wir laut auf. Schlugen die ­Zeigefinger über die Mittelfinger, um das Böse abzuleiten. Und nannten sie einen bissigen Mistkäfer.
Leider hatte der Mistkäfer recht.
Zu Ostern, wo nicht nur die Eier blühen sollten, blühte gar nichts. Die sonst fruchtig tonfarbige Erde der Toskana war zugefroren. Das Meer kochte über in stürmischer Wut. Und Loredana ging mit zusammengebissenen Lippen durch die Gassen des Hafenorts. Sie sagte nichts. Aber wir wussten, was der dünne Mund stumm flüsterte: «Ich habs ja gesagt!»
Irgendwie hofften alle auf die ersten Sonnenstrahlen am Letzten vom März. Dann warteten wir den April ab ? und schliesslich die Maisonne, die uns köstlich süsse Erdbeeren heranreifen lassen sollte ? ES BLIEB JEDOCH SIBIRIEN! EIN FRÜHLING WIE IM EISKASTEN. UND NUN UNKTEN AUCH DIE METEOROLOGEN IM SILVESTERSING­SANG DES BUCKELWEIBS.
Natürlich zauberten die Gescheiten sofort eine Erklärung aus dem Hosensack. Und laberten die Mikrofone bei Talkshows voll: Die Raucher sind schuld. Die Holzofenheizer. Und natürlich die Amerikaner, die einfach zu viel Autofahren, statt das Velo unter ihre überfressenen Ärsche zu klemmen. Und ?und ? und ?
Noch immer sagte Loredana nichts. Aber die Leute auf der Insel suchten sie nun in ihrer Lotterbaracke im Valle Verde auf. Sie wollten wissen, wie lange die Eiszeit noch anhalte. Und ob es sich überhaupt lohne, Saubohnen zu setzen.
Loredana soff sich in Trance und die Aktien der arabischen Kaffeesorte Robusta stiegen zum ­Himmel, diesem verhangenen.
An einem Sonntag, als ein Eisregen über das Dach der Kirche von Santo Stefano fegte und Padre Alfonso die vielen Ungläubigen verdammt hatte, baute sich Loredana nach dem Gottesdienst auf der Piazza auf: «Das Meer wird über die Ufer ­treten und den Damm wegreissen ?»
Nun muss man wissen, dass die Insel nur über ­diesen Damm vom Festland erreichbar ist. Wir sind eben das, was die Italiener eine «Penisola», also Halbinsel nennen. UND ALS DANN WIRKLICH VIER TAGE NACH DEM STÜRMISCHEN PFARRER UND DER UNKENDEN ALTEN DAS MEER DEN DAMM WEGFRASS, HATTEN WIR DEN SALAT. UND KEINE STRASSE MEHR.
Wir waren abgeschnitten. Und mussten uns mit Booten behelfen, wenn wir in Ansedonia Kopf­salat oder Abführpillen einkaufen wollten.
Zwar beruhigte sich das Wasser schon bald ­wieder. NICHT SO DIE GEMEINDE. Hier begann nun das Hin und Her, wer die Reparatur des Damms bezahlen sollte. Welche Versicherung? Welche Regierung? Welche EU-Kasse? Zwar stellte das einzige Inselbaugeschäft sofort Absperrungen, Mulden und «Vietato!»-Tafeln auf. Dazu drei mobile Toilettenhäuschen. Da jedoch immer nur ein einziger Arbeiter auf der Baustelle mit einem Kübelchen Sand herumspielt, war das mit den Toiletten umsonst und «alla grande» angerichtet.
Fragte man schliesslich bei der Gemeinde nach, wann wir wieder ohne diese schrecklich schaukelnden Nussboote auf dem Festland Toscani-Stumpen einkaufen könnten, zuckte man dort mit den Schultern. Schaute auf die gespreizten Fingerspitzen. Und murmelte dann: «Emmbe ?embee ?»
Immerhin ? einige Fischer motzten ihre alten Boote auf und unterhalten jetzt einen Fährbootsdienst. Man kann sich von Gianni oder Enzo aufs Festland bringen lassen. Die Überfahrt kostet so viel wie eine starke Milchkuh. Und für uns fremde Fötzel: wie deren drei.
Ich sitze auf der Überfahrt mit meinen acht Packungen Toscani neben Loredana. Die Alte hat sich beim Drogisten mit Süssholz und drei stinkenden Stockfischen eingedeckt ? dazu fünf Kilo arabischer Kaffee. Robusta.
«Wie lange dauert das Unglück noch?», schaue ich sie tränend an. Und übergebe mich ins tosende Wasser. Das Schaukeln und der Fisch sind einfach zu viel.
Sie klopft mir auf die Schenkel: «Wenn der Mond abnimmt, kommt die Hitze ?»
Ich weiss nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
Ich weiss nur, dass die mittlerweile 47-jährige Imelda schwanger ist. Und dies vor dem Tag des heiligen Stefano. Und nach 26 ausgesetzten Perioden ?

Dienstag, 18. Juni 2013