Von Kopfsalat mit Seele und der Vergesslichkeit

Walter sitzt im Esssaal.
«Hallo, Herr Humbel», ruft der Pfleger fröhlich. Und streichelt den Arm des Mannes, der da im Rollstuhl sitzt.
Walter lächelt.
Er schaut den Pfleger nicht an. Er fixiert eines der grossen Fenster. Und lächelt ins Leere.
Draussen regnet es. Nun hebt Walter den Kopf zum Pfleger: «Zeit für mein Mittagessen.»
«Das Mittagessen war vor einer Stunde. Sie haben die Pouletbrust sehr genossen, Herr Humbel.»
Walter reagiert nicht. Er schaut wieder aus dem Fenster. «In den Nachrichten sagen sie, es gebe Krieg», verkündet er ins Leere. Die alte Frau, die neben ihm mit einer Puppe spielt, schaut kurz auf. «Alle Blumen sind weg... im Krieg gibt es nie Blumen! Nur Kartoffeln.» Dann reisst sie der Stoffpuppe eines der Wollhaare aus.
Der Pfleger schreitet ein. «Aber, Frau Maser... das arme Ännchen hat ihnen doch nichts getan...»
«Keine Blumen auf dem Feld... nur Kartoffeln», knurrt die Frau.
Walters Lebenslauf ist kurz erzählt: Er wuchs in einem kleinen Dorf auf. Im Luzernischen. Unbeschwerte Kindheit. Lehre als Gärtner. Dann Anstellung bei einem Grossbauern, der auf seinen Kopfsalat stolz war. «So gross wie Schwingerköpfe. Und satt wie ein Fussball. Das macht die Düngung», so hatte der Bauer jeweils im «Leuen» seine Produkte gepriesen. «Es geht nichts über den eigenen Miststock!» Der Bauer liess seine Hand lachend auf den Tisch krachen: «MIT DEM EIGENEN MIST WEISS MAN, WAS MAN HAT!»
Walter war für die Verteilung des Miststocks verantwortlich. Und köpfte täglich ein paar Dutzend der Salate. Dazu nahm er ein scharfes, spitzes Messer. Walter war überzeugt, dass die Köpfe leise aufschrien, wenn er sie mit einem gut gesetzten, einzigen Schnitt abtrennte. Später, als seine Tochter Angela die Vegetarier-Phase durchmachte und am Tisch erklärte, sie esse nichts, was die Menschen getötet hätten, hat er sie lange angeschaut: «Und die Trauben, die du pflückst... die Radieschen, die du aus der Erde zupfst... werden die denn nicht auch getötet?... Ich kann dir sagen, dass jeder Salatkopf eine Seele hat, Angela.»
Die Vegi-Periode der Tochter dauerte zwei Monate.
Walter konnte ein Leben lang keinen Kopfsalat mehr essen.
Während einer Mustermesse lernte er dann Lore kennen. Sie arbeitete als Servicehilfe an einem Fondue-Stand. Walter sah sie? und kochte wie die Käsesuppe. Er beschloss, in Basel Arbeit zu suchen.
Die Chemie war froh um junge Arbeiter aus der Innerschweiz. Er kam zu den «Farben». Dann zu den «Pillen gegen Schlaflosigkeit». In den zwölf Jahren vor seiner Pensionierung war er für den technischen Ablauf der Produktion verantwortlich. Es war kein grosser Unterschied zu den Salatköpfen. Aber Pillen waren stumm. Und schrien nicht... «Pillen haben keine Seele», sagte er mitunter zu Lore. «Was du immer weisst», seufzte sie. Und holte ihm ein Bier.
Als Lore starb, wollte ihm Angela eine betreute Alterswohnung schmackhaft machen. Er widersetzte sich. Und blieb, wo er seit nun bald 50 Jahren lebte. Gut. Die Vierzimmerwohnung war zu gross. Aber es war die gewohnte Umgebung. Er wollte nichts verändern, brauchte den alten Rahmen, der alles zusammenhielt. «Du könntest zumindest Mutters Bett...», drängte Angela. Lores Bett blieb. Manchmal legte er nachts seinen Arm darauf.
Walter machte sich nichts aus Fernsehen. Er schaute aus dem Fenster. Das war spannender. Und er redete mit den Vögeln. Er hatte im Winter ein Netzlein mit Körnern herausgehängt. Und zerschnitt das alte Brot in kleinste Würfel. Walter liebte die schwarzen Raben. Und hatte auch nichts dagegen, wenn die Tauben sich über die Krumen hermachten. Der Hausmeister hatte ihm allerdings energisch verboten, die Tauben zu füttern: «Schauen Sie sich unser Dach an, Herr Humbel... ich kann das nicht alle zwei Jahre reinigen lassen!»? «Ja», sagte Walter. Und fütterte die Vögel weiter.
Als die Feuerwehr das erste Mal kam, weil er die Herdplatte auf 6 vergessen hatte und die Frittenpfanne daneben zu lodern begann, hatte seine Tochter eine Riesengeschichte daraus gemacht. «Vater, du vergisst alles. Und telefonieren kannst du auch nicht mehr... glaube mir, es ist Zeit für ein Heim...»
Er spürte, dass er nicht mehr derselbe war, spürte seine Unsicherheit. Er wusste plötzlich nicht mehr, wie man die Rasierklingen an diesen kleinen Apparat bekam... wie die Espressomaschine funktionierte... wo er das Vogelfutter hingelegt hatte. Aber er blieb in der Wohnung.
«Du hast einen verdammt harten Innerschweizer-Grind!», tobte Angela.
Als die Küche zum zweiten Mal abfackelte, fand man in seinem Kleiderschrank über 30 Packungen Vogelfutter. Die Frau, die ihn heulend abholte, kannte er nicht. Er erkannte überhaupt nichts mehr.
Die Alte neben Walter drückt die Stoffpuppe nun an sich: «Liebes Ännchen... Ännchen liebt Blumen, gell...» Walter schaut noch immer zum Fenster. Ein schwarzer Vogel hat sich auf die Fensterbank gesetzt. Er sieht über ihn hinweg: «Ich glaube, es ist Zeit für mein Mittagessen...», sagt er.
«In zwei Stunden gibt es Nachtessen», lächelt der Pfleger, «Griessschnitten und Salat...»
Walter isst nun auch Kopfsalat.
Der Vogel fliegt davon.

Samstag, 6. August 2011