Von italienischen Überlebenskünstlern? und «ebe?!»

In Italien kriselts.
DAS IST DIE UNTERTREIBUNG DES JAHRES!
Das Land wird durchgeschüttelt wie die Pinklady im Cocktail-Shaker. Und das nicht nur wegen Bunga-Bunga.
Der Zufall wollte es, dass ich vor 20 Jahren in einen Palazzo einzog, der heute nur einen Ballwurf von Berlusconis Büro-Datscha entfernt liegt. Damals war die Gegend natürlich noch sauber. Ich flüchtete vom Campo dei Fiori, weil dieser sich je länger je mehr zum Tourismus-Bauchnabel entwickelte. Morgens gibts nun auf dem ältesten Gemüsemarkt der Stadt anstelle von frischem Fisch aus Ostia und aufgehängten Hühnern aus Umbrien funkelnde Murano-Figürchen aus China und Trockensteinpilze in stoffbedeckten Einweckgläsern? die Pilze kommen aus Rumänien. Und ihre Würmer auch.
Abends tauchen die Pilgergruppen aus Moskau, Bad Eschingen und Mulhouse-Ville ebenfalls auf dem «Campo» auf, weil ihnen ihr Führer zugeraunt hat, er führe sie jetzt in das typische Nachtleben der jungen Römer. Unnötig zu sagen, dass dieses sich ausserhalb des Centro Storico abspielt. Der Campo aber hat die Morgen-Ständchen wie durch Zauberei verschwinden lassen. Nun lodern wärmende Gasflammen in die Nacht? und darum herum laden Tausende von Barhockern zum Open-Air-Cocktail. Dies bis drei Uhr morgens.
DESHALB ZOG ES MICH IN JENE RUHIGE GEGEND, WO ALLERHÖCHSTENS EIN PAAR JESUITEN-PRIESTER IN DER CHIESA DEL GESU MIT DEN KETTEN RASSELTEN.
Von Berlusconi gabs noch keine Spur. DAS IST JETZT ANDERS. SEIT ER BEI UNS UM DIE ECKE LOGIERT, IST HIER DER TEUFEL LOS.
Nicht nur, dass unsere alte, harmlose Strasse von einem Heer von Polizisten und Militär beschützt wird. Manchmal fliegen hier auch Eier. Es wird Triller gepfiffen. Und ihr solltet mal erleben, wenn Silvio zum Kaffee trinken geht: DER VERKEHR BRICHT ZUSAMMEN. ALLES WIRD MIT BLAULICHT UND TATTÜÜÜ-TATTAAA ABGESPERRT. Busse sind blockiert. Die Leute kommen drei Stunden zu spät zur Arbeit? DOCH KEINER REGT SICH AUF. DIE ITALIENER NEHMEN ALLES LEID IHRER WELT EINFACH HIN. DIES MIT DEM LÄCHELN DER OHNMÄCHTIGEN: «Silvio va prendere un caffè... ebe?!»
«Dieses Ebe ist eh ein Allerweltswort auf dem Stiefel, das einem über alles und jeden hinweghilft.
«Ebe...», will so viel heissen, wie «ja und?»
Und wenn wir bei den Römer Freunden über Berlusconi klönen, ist die Antwort immer «ebe?!»
Sie fragen mich nach einer Alternative. Und jetzt ist es an mir: «ebe?!»
Natürlich sind die Italiener grossartige Lebenskünstler. Irgendwie schaffen sie es immer. Beispiel: Antonella ist ausgebildete Psychologin. Hat ihre Laurea. Und sich nach der Doktorarbeit noch drei Jahre auf dem Gebiet «Kriminalität bei Kindern» schlau gemacht. Heute kommt sie mit einem Fulltimejob als Windelwechslerin in einer Kinderkrippe gerade noch über die Runden. Monatsgehalt: 450 Euro!
Ihr Ehemann Massimo arbeitet bei der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft? er bekommt den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von 1100 Euro. In Italien machen gut 50 Prozent der Männer einen 1100-Euro-Job.
JA UND DANN WUNDERE ICH MICH IMMER WIEDER, WER DENN ALLE DIESE FERRARI, BMWS UND HERUMBRAUSENDEN MERCEDES BEZAHLT HAT?
Es ist auch nicht so, dass die guten, teuren Restaurants in Rom leer wären. Dort sitzen die Italiener. Die Touristen hocken zu 90 Prozent in den «Cola-Pizza-Café-für-7-Euro»-Beizen. Und würden daheim beim Italiener an der Ecke besser essen...
Irgendwie schlagen sich die Italiener immer durch. Es sind Lebenskünstler. Wenn sie Geld haben, geben sie es aus. Wenn sie keines haben auch. Und irgendwo ist immer eine Tante oder ein Grossvater, der aus Kalabrien, Apulien oder dem vermaledeiten Süden Ende Monat Körbe mit Olivenöl, getrockneten Feigen, hausgebackenem Brot und saftige Schinken in den Norden schickt.
DAS IST DIE WAHRE UNTERSTÜTZUNGSHILFE IN ITALIEN.
Manchmal denke ich: WANN HABEN DIE LEUTE WIRKLICH DIE NASE VOLL?! Wann wehren sie sich nicht nur mit Eiern und einem Faustschlag. Wann wird es ernst?
In Neapel stinken die Abfallberge wieder, dass Gott erbarm. Aber die Fremdenführer lotsen die Touristen in die kleinen Gassen, wo Ständlein unter Glimmerlichterbögen und Weihrauchwolken die weltberühmten Krippenfiguren anbieten. Auch die Gäste haben gelernt, in Italien zu überleben. Und einfach nur das Schöne zu sehen.
Es sei denn, ihr Bus steckt im Berlusconi-Chaos, weil der wieder mal einen Kaffee an der Ecke trinken und in der Öffentlichkeit baden gehen will. Und sie kommen zu spät an den Abflugschalter... die Maschine ist bereits seit einer Stunde weg!
«JA UND JETZT?!», fragt der entsetzte Italientourist. Und der Mann am Schalter lächelt: «Ebe...?!»

Samstag, 4. Dezember 2010