Von grellbunten Kreolinnen und Havannas keimendem Kapitalismus

Havanna erwacht. Bereits um sieben Uhr in der Früh herrscht auf der Calle Obispo ein reges Gewusel. Junge Leute bauen in Hauseingängen wacklige Holztischchen auf. Sie schleppen Körbe mit Thermosflaschen an. In einer Kiste dampfen safranfarbige Brötchen. Und jemand schraubt ein Riesenglas mit eingelegten Paprikaschoten auf? fertig ist die Imbissbude.
Schon stehen die Menschen an. Sie bekommen Kaffee in Pappbechern eingeschenkt. Knüddeln eine Papierserviette darüber und lassen sich eines der Brötchen mit Öl beträufeln und Peperoni belegen.
«Das ist das ganz neue Havanna», erklärt Jorge stolz. Seit einem halben Jahr hat nun jeder die Möglichkeit, ein kleines Geschäft zu eröffnen. Er muss dem Staat einfach eine Bewilligungssteuer bezahlen. Raoul hat das veranlasst...» Dann flüstert mir Jorge zu: «Raoul hat auch seinen liebsten Freund und unsern besten Tänzer im Land neben dem Grab seiner Frau begraben lassen...» Wir begreifen: Raoul tanzt anders als der ganze Revolutions-Verein.
Nun gut. Ich habe mir das frühe Havanna etwas bunter vorgestellt. Auch wärmer. Aber das Klima ändert sich auch hier? und dies nicht nur am politischen Himmel. Die Leute haben sich Kunststoffjacken über die T-Shirts geworfen. All die legendären Che-Leibchen und den schmauchenden Fidel auf Baumwolle trifft man selten über kubanischen Muskeln. Hier ist jeder stolz auf einen Harley-Davidson-Aufdruck. Oder auf die Cola-Büchse im Original-Kleid. Die alten Kämpfer im XL-Format sind für nostalgische 68er und ein paar ostdeutsche Touris reserviert.
Wir tummeln uns da also mitten im Saatbeet des Kapitalismus. Die Samen scheinen Wurzeln zu schlagen. Bei der Plaza de la Catedral füllen zwei junge Mädchen Erdnüsschen in dünne Zeitungscornets ab. Daneben portionieren drei alte Weiber einen Korb voll hausgebackener Süssfladen in Frischhaltepapier. Und der Zeitungsverkäufer mit dem Che-Guevara-Käppi lutscht zuerst einmal gemütlich an einer Gelato, die jemand direkt aus der Kühlbox anbietet, bevor er die neusten Horrormeldungen auf die Menschheit loslässt.
Ich kaufe einen Schnitz Papaya und zwei Ananasstücke.
Und wenn Jorge auch zusammenzuckt und meint, er wisse nicht, ob diese Strassenfrüchte einem verwöhnten Kapitalistenranzen verträglich seien, so beisse ich doch herzhaft zu. Bitte? die Früchte schmecken tausend Mal besser als in unserem vornehmen Hotel, wo man ihren Geschmack nach amerikanischem Gusto auf Eiswürfeln abgetötet hat.
«Diese Brühe ist aber dünn», müffelt Innocent, der die schlaflose Nacht mit drei Pappbechern voll vom berühmten Kubacafé wegspülen will. Jorge sagt etwas zur Strassenverkäuferin. Die holt ein Döschen mit Nescafé. Und pulvert die Brühe zünftig auf.
Innocent ist gerührt wie nun sein dampfender Maxwell-Kaffee: «... also nett sind die Menschen hier... das muss man schon sagen... heute Morgen hat mir das Zimmermädchen gar über die Haare gestreichelt...»
BLÖDSINN! Sie hat ihm den Hörapparat zurechtgerückt.
Aber ich sage nichts. Wenn Kuba über ein halbes Jahrhundert mit Illusionen leben konnte? weshalb soll Innocent da eine Ausnahme sein...
Auf dem Paseo de Marti ist nun der Teufel los.
Grellbunte Limousinen wie aus einem amerikanischen Film der 50er-Jahre, ratternde Moped-Kübel mit Zweisitzer-Anhängern (man nennt sie hier Kokosnuss-Taxis), Velo-Rikschas, die nervös klingeln,? all dies gibt dieser Stadt einen Hauch von Barcelona und Harlem. Jorge macht uns auf die unauffällige, aber prächtige Oper aufmerksam:
«Hier ist Caruso schon aufgetreten. Die Mafia hat ihm eine Bombe gelegt. Und man sagt, die Explosion habe ihn bis ins Nachbarhotel weggedonnert...»
«Aha», sagt Innocent, «und weshalb hat man die Oper nicht wieder aufgebaut?»
Das ist das Problem, aber sicher auch der Zauber dieser Stadt: keine Betongräuel... keine aufgetünchten Kulissen wie in Prag? nein. Hier darf die Fassade bröckeln, die Vergangenheit Geschichte sein. Man geht dem Jugendstil nicht mit falschem Putz an den Kragen? und die prächtigen Kolonialbauten von einst sind lebendige Zeugen dafür, dass diese Zeit passé ist.
Ein silbriger Mercedes wird auf dem Paseo de Marti mit fröhlichen Zurufen und Applaus begrüsst.
«Das ist sicherlich Raoul», strahlt Innocent.
Aber Jorge nimmt ihm die Illusion? «schaut euch die Person am Steuer genau an!»
DAS IST EIN SCHOCK!
Am Steuer sitzt eine Frau mit schwarzer Perücke und gespenstisch zerstückeltem Gesicht. Sie winkt den Menschen zu. Und Jorges Stimme beginnt zu schwärmen. «Sie ist eine Nationalheldin. Hat als Sprinterin Weltmeistertitel und Goldmedaillen für unser Land geholt. Dann verliebte sie sich in einen Hochspringer? eine unglückliche Liebe. Sie übergoss sich mit Benzin und wurde zum flammenden Protest gegen eine nicht erhörte Liebe.
Fidel hat sie jeden Tag am Krankenbett besucht. Er hat sie gefragt:?Was trauerst du um ein einziges Herz, wenn dir jeder Kubaner seine Liebe schenkt?? Seither ist sie ein Stück Geschichte...»
«Hat er das nun erfunden?», flüstert Innocent mir zu, wird aber sofort von zwei Kreolinnen abgelenkt, die wie aufgeschreckte Hühner auf ihn zufuchteln. Die Damen haben sich aufgerüstet wie die Kanonen zum Krieg. Sie sehen aus wie Carmen in einer Drittklass-Oper. Und sie tragen Blumenkörbe, in denen die Nelken genau so falsch sind wie das «Hello, beautiful man»-Gebalze der Tussen.
Schon drücken sie Innocent an ihre Busen. UND WAS FÜR KNALLER! Ich brauche euch ja nicht zu beschreiben, wie unser Rentennehmer mit seligem Geseufze darin unterging... Danach musste er aber zünftig für den Untergang blechen. Sein Kopf war über und über mit scharlachroten Lippenstiftspuren verkleistert, sodass er aussah wie ein schlecht geschminkter Nummernclown in einem Wanderzirkus.
Ich war nun schon etwas säuerlich, dass ein staatlich geprüfter Anwalt auf diesen billigen Touristentanz reinfallen konnte, und Jorge versuchte die Stimmung mit einem kleinen Drink auf dem Dachgarten des Hotel Ambos Mundos aufzuheitern.
Im Zimmer 511 ist hier noch immer das Bett für Ernest Hemingway gemacht. Und ich habe nicht mitbekommen, ob das nur eine Touri-Schleime sein soll, oder ob die dummen Leute tatsächlich noch nicht mitbekommen haben, dass der Schriftsteller seinen alten Mann bereits in einem Meer sucht, das nicht mehr auf dieser Welt ist...
Später fahren wir an den alten Bonzen-Villen mit den Prachtsgärten vorbei (DAS SIND HEUTE DIE BOTSCHAFTERHÜTTEN DER MODERNEN WELT). Dann stehen wir im Stadtteil Nuevo Vedado auf der Plaza de la Revolucion. Es ist einer dieser Plätze, wie sie den westlichen Besuchern der einstigen Sowjetunion immer wieder einen kalten Schauer über den Rücken wehen liessen.
Hier auch: Stimmung wie im Leichenhaus? eiskalte Macht hinter dem Regierungsgebäude. Und stählerne Grossbilder von Che und Fidel turmhoch wie ein Graffiti-Spray über die aschgraue Fassade gezogen. «Auf diesem Platz haben eine Million Kubaner dem Papst zugejubelt...», weiss Jorge zu berichten. Und relativiert sofort: «... und anderthalb Millionen unserem Fidel.»
In einem schattigen Park ruhen wir aus. Es gibt hier Bäume, so dick wie eine Elefantenherde mit traumschönen Luftwurzeln, die wie schwere Seile von den Ästen hangen. Kinder jagen einem Ball nach, Mütter, gemütlich dick, sitzen auf Steinbänken und schnattern wie tausend Nähmaschinen.
Hunde schnüffeln nach Verlockendem, und es ist für einen kurzen Atemmoment wie überall auf dieser Welt...

Samstag, 26. Februar 2011