Von einem Sarg voller Erinnerungen und der Asche im Teppich

«Wenn du nicht endlich dieses Gerümpel hier aufräumst, gehe ich am Letzten!» Das war Annick.
Auf 100? wie immer. Annick hat meine alte Linda ersetzt. Nun ja? NIE ERSETZT. Linda hat das Gerümpel nämlich einfach immer grossräumig umgangen. Putzen war ihre Sache nicht. UND DAS IST JETZT SEHR NETT AUSGEDRÜCKT.
Linda kippte jeweils die Zigarettenasche auf den Spannteppich. Dreht diese mit ihren Highheels ins Kunststoffgewebe. Und erklärte meiner lieben Mutter, die solches einmal entsetzt beobachtete: «Liebes Frau... Aschig gut gegen Mottig.»
WIR HATTEN NIE MOTTEN. NIE FLIEGEN. NIE KAKERLAKEN. Das war aber nur, weil Linda stets rauchte wie eine Kehrichtverbrennung.
Bei diesen beissenden Schwaden griff sich auch das allerletzte Heiminsekt schreiend an den Kopf. Und schaltete in Panik auf Abflug.
NUR DESHALB WAREN WIR MOTTENFREI.
Meine Mutter aber murmelte: «Das hat was!»
Und drehte von diesem Zeitpunkt an ebenfalls mit den Pumps die Asche in die teuren Perser.
Da sie ein Geheimnis nie für sich behalten konnte, taten es ihr die Damen vom Bridge-Club Morgarten bald einmal nach. Das war die Zeit, als in unserer Stadt die Spannteppiche zu ergrauen begannen.
Und die jüngere Generation dann angeekelt von veraschten kunstfaserigen Schlafzimmerböden auf versiegeltes Glanzparkett umstieg. Und das Rauchen einstellte.
ICH DARF ALSO OHNE GROSS ANZUGEBEN SAGEN: MEINE FAMILIE IST AM GLANZ DER NEUEN ZEIT NICHT UNSCHULDIG!
Zurück zu Linda. Sie hätte das Gerümpelzimmer putztechnisch nie berührt? so wenig, wie sie jeweils die andern Zimmer putztechnisch berührt hatte. Aber wenn es ihr beim Morgenprogramm vor dem Fernseher langweilig wurde, steckte sie einen Stumpen in den Mund. Hockte sich auf den Boden. Und ging den Fotosarg durch.
Den Fotosarg hatte mir die Kembserweg-Omi vererbt. Sie putzte damals in einem Beerdigungsinstitut.
Die Omi hat immer behauptet, es sei zwar schlecht bezahlt, aber der ruhigste Job in ihrem Leben gewesen: «Ich düse da zwischen den lieben Verblichenen herum, pfeif mir eins und stelle mir vor, dass die Kellerhals von der Petersgasse auch bald da liegen wird? DAS WÄRMT DEIN HERZ IN DIESER KALTEN STUBE.»
Die Kellerhals war Omis Intimfeindin Nummer eins? so eine Art SP-Blocher-Beziehung.
Nun hatte der Sargmacher eines Tages eine Extraanfertigung für einen Kleinwüchsigen auszuführen.
Der Mann war kaum grösser als die Handtasche der Omi. Er arbeitete als Clown bei einem Zirkus. Und brach sich das Genick, als er in der Manege stolperte... Man strich noch am selben Abend die Lipizzaner-Nummer aus dem Programm.
Und bestellte einen Sarg. Doch als dieser fertig war, beschloss der Direktor des Kleinzirkus, den Mann einzubalsamieren. Und als Maskottchen auf Tournee mitzunehmen. JA, UND WAS IST NUN MIT DEM SARG?? werdet ihr euch fragen. Richtig. Der Sargmacher wusste, dass er so etwas Kleingezimmertes nie mehr an den toten Mann bringen konnte, und schenkte ihn der Omi zum zehnjährigen Angestellten-Jubiläum. Die verstaute ihre Konfitürengläser (meist Erdbeer-Rhabarber) darin.
Als Kinder waren wir natürlich von dem Konfitürensarg fasziniert, spielten Schneewittchen darin und liessen uns von den Vettern küssend retten. Als die Gute ihn mir testamentarisch samt Konfitüreninhalt vermachte (seither: NIE MEHR ERDBEER-RHABARBER!), funktionierte ich ihn zur Fotokiste um. Und verstaue die Erinnerungen im Sarg.
Linda liebte meine Erinnerungen. Sie konnte stundenlang über den vergilbten Bildchen hängen.
Und stellte alle fünf Minuten fragen wie: «Wer ist Frauig mit Fuchsigpelz und rossiges Zahngebiss?»
Innocent war natürlich total gegen diese Art von Archivhaltung. «DIE GESCHICHTE DEINER FAMILIE IM SARG! SCHÄME DICH? UND LEG DIR ENDLICH EIN FOTOALBUM SOWIE EINEN STAMMBAUM ZU.»
Stammbaum? Ja, bin ich ein Hund? Und nun also Annick, die dem Sarg und all den alten Erinnerungen, die sich hier gesammelt haben, an den Kragen will: «Wirf den Krempel einfach in die Tonne!»
Ich öffne die Holzkiste? und als Erstes fällt mir ein Foto meiner Mutter in die Hände: Sie trägt Handschuhe, die ihr bis zum Ellbogen reichen.
Dazu einen riesigen Tellerhut, auf dem ein Pfund Kirschen den Sommer einläuten. Der Jupe ihres Deux-Pièces streift das Knie? und die Füsse stecken in diesen groben Pumps, die Anfang der Fünfziger Mode waren...
«Mit diesen Schuhen hat meine Mutter immer die Asche in den Teppich reingedrückt...», erkläre ich Annick.
«Ach ja?»
«Linda drückte auch. UND WIR HATTEN NIE MOTTEN», doppelte ich triumphierend nach. «IN JENER ZEIT HATTEN WIR KEINE MOTTEN!»
Annick schweigt beleidigt. Denn trotz ihrer Putzwut und wogenden Chavel-Wellen mottet es bei uns saumässig.
«WAS WILLST DU DAMIT SAGEN?»? keift sie, schon wieder auf 100.
«Der Sarg und das andere Grümpel bleiben! Man kann Erinnerungen nicht entsorgen...»
«... und was ist mit diesem Glas Konfitüre hier? Da hat sich ja fingerdick Schimmel drauf gelegt!»? fragt sie spitz.
«Erdbeer-Rhabarber»? sage ich. Und: «... die schenke ich dir!» MAN MUSS ERINNERUNGEN AUCH TEILEN KÖNNEN.

Samstag, 4. Februar 2012