Von der Wildsau-Invasion und entschlossenen Jägern

Donnerstag Der Schrei gellte durch den frühen Morgen.
Ich lag im Bett. Meine Träume gingen in Richtung Butler mit Silbertablett, sanftes Klopfen an der Tür, gedämpfte Stimme: «Schöner Herr, darf ich die Vorhänge öffnen... hier kommt der erste Espresso... es ist ein wunderbarer Morgen...»
DIE WIRKLICHKEIT IST EINE MIT PLASTIK REPARIERTE FENSTERSCHEIBE. UND STATT DER TÜRE EIN LOCH, WEIL DIE HOLZWÜRMER KOHLDAMPF HATTEN.
Und der Butler? Ich wäre schon glücklich, wenn der Staubsauger funktionieren würde.
Von der Wirklichkeit des Alltags so trist überrollt, rolle ich mich nochmals in diesem Himmelbett, dessen Matratze die Hölle ist, in Embryoposition.
DANN WIEDER DER SCHREI: «JETZT SCHAU DIR DAS AN!»
Innocent schon auf den Beinen? Was ist der Grund? Vielleicht macht ihm die Blase zu schaffen?
Oder? UND DAS IST WOHL DAS UNWAHRSCHEINLICHSTE? er hatte die Eingebung, mir den Kaffee («bitte schwarz, nein danke? keinen Zucker!») ans Bett zu bringen.
Ich stellte mich schlafend. Doch schon rüttelte er mich (ohne Kaffee!) an der Schulter: «DU GLAUBST ES NICHT!»
Ich glaubte es wirklich nicht: Unser wunderbarer Rasen ist nur noch wüster Acker. All die liebevoll geschnittenen Gräslein, die Innocent mitten in der italienischen Wildnis im Wahn grosszieht, ein Stück englischen Garten zu besitzen, all diese handgeschnittenen Hälmchen lagen jetzt herum, als wären sie durchgekaut und nicht heruntergeschluckt worden.
DAS WAREN SIE AUCH.
Die Wildschweine sind nämlich über Nacht eingebrochen.
Die wunderbare Kühle von Innocents zärtlich gebäbbeltem Rasenstück hat die Säue so magisch angezogen wie die Boni den Banker.
Seit Monaten hats auf der Insel nicht mehr geregnet.
Der Boden ist weitherum nur Staub und Stein.
Innocent zaubert (dank Quellwasserumleitungen durch feinste Gummischläuche und pilzartigen Versprühern, die plötzlich wild spritzend wie Ufos aus dem Boden aufsteigen). Innocent zwingt also dank seines technischen Genies das Braun aus der Wildnis raus. Und das Grün rein. UND JETZT?
Mit einem Aufjaulen braust Innocent in den Hafenort.
Jetzt, wo sein Grün fehlt, sieht er rot. Unkontrolliert kauft er alles ein, was ihm unter die Hand kommt: drei Sturmgewehre, fünf akustische Sensoranlagen, zwei Kilo Arsen? und nur mit Mühe kann ich ihn davon abhalten, nicht auch noch die alte Kanone vom «Forte Stella» zu ersteigern...
«DIESE SCHWEINE SOLLENS MIR BÜSSEN!»? brüllt er immer wieder seinen Kriegsruf in die Macchia. Vorher aber macht er sich geschlagene fünf Stunden daran, den Rasen wieder einigermassen glattzubügeln.
NATÜRLICH IST ES NICHT DASSELBE.
Das perfekte Grün von einst ist jetzt von vielen braunen Schotterstellen durchzogen? sagen wirs mal so: Es ist wie die schöne, keusche Schneelandschaft vom Kuonisbergli, wenn Oeschters Göpfi mit dem Güllendispensor über das Weiss fährt.
Gianni, unser Gärtner, der es ja immer gesagt hat, dass so etwas passieren muss, wenn man die Natur zu unnatürlichen Dingen zwingt, Gianni also verspricht mit Innocent Wache zu halten und diese verdammten Schweine plattzunieten.
Die beiden Säuejäger steigerten sich in eine einsame Wut. Sie sattelten ihre Gewehre. Und hockten bei Halbmond mordsgeil auf der Locanda. Hin und wieder piepste eine der Akustik-Warnanlagen nervös auf, wenn ein Nachtfalter beim Sensor vorbeigaukelte.
Ich steuerte das meinige bei. Und schmierte belegte Brote.
«Bring uns Wein!», polterte Innocent, der in seinem österreichischen Jagdwamserl, das ihm Liesel einst zum Christfest geschenkt hatte, aussah wie Sissis liebes «Papilein» auf der Pirsch? daneben Gianni in der bewährten Jeanshose, die er seit jenem schrecklichen Tag, als in Manhattan die Türme einstürzten, nicht mehr gewechselt hat.

Freitagmorgen Dieses Mal war die Nacht traumlos. Nur einmal bin ich kurz aufgewacht, als die beiden Jäger draussen die russische Nationalhymne anstimmten. Ich gehe auf die Locanda. Da liegen beide ausgestreckt in den Korbsesseln.
Mein erster Gedanke: Die Schweine haben sie niedergestreckt.
Doch dann höre ich sie schnarchen.
Und sehe: Drei Flaschen vom Roten sind leer. Am letzten belegten Brot hängen die Wespen.
VOR UNS JEDOCH LIEGT DAS GRAUEN? ES IST, ALS HÄTTE EINE BOMBE EINGESCHLAGEN.
Ich nehme eines der herumliegenden Gewehre.
Und schiesse in die Luft. Diese lustige Geste habe ich in der Tagesschau den Vermummten abgekupfert.
Die zwei Wildsaujäger jagen sofort aus ihren Sesseln.
«WAS IST LOS?»? juckt Innocent hoch. «Die Schweine waren wieder da, ihr Penner!», sage ich.
«Ich habs ja immer gesagt», sagt Gianni.

Samstag, 17. Oktober 2009