Von der Gartenidylle und Engerlingen

Donnerstag Jetzt hocken sie alle wieder in ihren Gärten.
Hosen hochgekrempelt. Stiefel verdreckt.
So spaten sie sich schwitzend durchs Glück. Und alles mit dem inbrünstigen Liedlein der Hausmanns-Bohne: «ES GEHT EBEN NICHTS ÜBER EIGENE TOMATEN».
Für mich waren Tomaten einfach Tomaten.
Der Garten war ein Fleck des Unguten. Und der Plackerei: Unkraut jäten... Steine aus der Erde buddeln... Schnecken vom Salatblatt hochziehen. Und zum Nachbarn werfen...
UND DANN DIESE KANNENSCHLEPPEREI!
Unser Garten war natürlich der letzte. Und vom stets veralgten Brunnen am weitesten weg.
So zuckelte das dickliche Kind über Kies. Brach sich schier den Rücken unter der Last von zwölf Litern Spritzwasser.
TIERE WERDEN GESCHÜTZT? KINDER NICHT!
Bückte man sich nach der Schinderei zur Selbstbelohnung nach einer der raren Erdbeeren, machte einem bestimmt ein Engerling die Freude madig.
ACH, WIE VIEL NETTER WAREN ERDBEEREN UNTER DER PLASTIKFOLIE IM SUPERCENTER.
Unser Garten lag auf französischem Gebiet. Meine Mutter sattelte mich auf ein Velo, das die Menschheit der Fünfzigerjahre «Solex» nannte. Der Medizintank war ähnlich rund wie eine Puderdose. Ich hockte auf dem Gepäckträger. Mutter sutterte los. Ich spreizte die Beine, um nicht in die Speichen zu kommen.
JA HALLO HERRSCHAFTEN! DA WAR NOCH ETWAS LOS AUF DEN STRASSEN!
Wir pfupften am französischen Zöllner vorbei, der mehr an Mutters Beinen als am Pass interessiert war. Und auf diesem Land, wo sie später dann ein Gartenbad hinpeppten, wartete bereits der liebe Vater in seinen vergammelten Trämlerhosen. Und spielte «Naturfreund».
Das Spiel ging folgendermassen: Er kühlte die Bierflasche im Gemeinschaftsbrunnentrog. Überdies hatte er Kembserweg Omis alten Klapptisch unter dem Aprikosenbaum aufgestellt. Darum herum vier Harassen. Und die Jasskarten lagen auch schon pronto auf diesem Tischtuch mit der Plastikbeschichtung und einer unsäglichen Farbe im Gelb verpisster Windeln.
«JA KOMMT IHR ENDLICH!», toste Vater. Er rief die Nachbarn aus dem Gärtchen. Und verteilte die Karten. Dann knallten die Bierverschlüsse wie die Schlüpfer im billigen Fünfzigerjahre-Puff.
WIE GESAGT? DAS WAR NICHT MEINE WELT.
Ich hätte statt der Trämlerhosen meines Vaters lieber ein weisses Beinkleid aus feinem Linnen gesehen. Und statt des Gartenhäuschens an der Elsässer Grenze hätte es schon eine Segeljacht in der Karibik sein dürfen.
Das Velosolex liess ich gelten, doch nur, weil es so geil hoppelte. Natürlich hätte ich auch bei einem Opel Taunus, wie die Blickensdorfers ihn glanzpolierten, nichts zu meckern gehabt. Die fuhren nie in einen Garten. Höchstens ins Gartenrestaurant.
«WESHALB KÖNNEN WIR NICHT REICH SEIN?!», vermieste ich meinen lieben Eltern mit bitteren Vorwürfen ihre «Radieschen-Idylle».
Sie schwiegen. Nicht etwa, weil sie in Gedanken nach einer Lösung suchten. Sondern weil Vater das Nell zu früh ausgespielt hatte. Insgeheim hing ich dem Traum nach: Ein Millionär kommt... er verliebt sich in den lustig-verspielten Buben... und adoptiert ihn auf der Stelle.
DANN WÄRE MIT DEN ENGERLINGEN SCHLUSS GEWESEN!
Der Einzige, der kam, war Herr Läuchli. Der alte Glatzkopf machte mich mit seinen pflutterweichen Sugus an. Die Sugus waren schon o.k. Aber Herr Läuchli eine Niete. Er war Handorgellehrer und hätte mich gerne in seiner handharmonischen Crew gesehen. Doch wenn einem der Sinn nach Segeljacht und weissen Hosen steht, sind Handharmonikas nicht der richtige Ton.
NA JA? IRGENDWANN WAR DANN AUCH SCHLUSS MIT DEM HAUSGEPFLANZTEN.
Die Gärten wurden aufgehoben. Und wir machten es uns mit einer Tiefkühltruhe, in der Findus-Aprikosen bereits geschnitzt auf die Wähenböden warteten, auch ganz gemütlich.
Und nun dies: Da gehe ich bei Kleinhüningen ein bisschen ums Eck, weil der Arzt gegen Zipperlein und Ranzen «ein paar Schritte» verordnet hat. Plötzlich stehe ich vor einem Spalier mit Bohnen. Eine junge Frau schnipselt die Ernte ab? und ein Mann in Überhosen lässt es aus der Giesskanne regnen.
Ich schaue fasziniert zu. Denn plötzlich schmecke ich wieder diesen unverkennbaren Geruch von glühender Hitze, die sich in das Gartenhausholz eingebrannt hat... von trockener Erde und frisch gespritztem Wasser... von Tomatenstauden, die von der Sonne austrocknen.
«Wollen Sie Tomaten... wir haben viel zu viel», ruft die Frau.
Zehn Minuten später sitze ich auf einer Harasse unter einem Aprikosenbaum. Vor mir ein Klapptisch. Und darauf: eine Flasche Bier, die im Brunnenwasser gekühlt worden ist.
«Es geht nichts über eigene Tomaten», nickt der Mann im Überkleid.
Dann schweigen wir drei. Und atmen die Idylle.
Ein Zauber liegt über dem Garten. Kindheitserinnerungen wachsen im Erdbeerbeet.
«Früher gabs Engerlinge», sage ich. Um überhaupt etwas zu sagen...
«Früher gabs auch Millionäre», sagt der Mann.

Donnerstag, 9. Juli 2009