Vom Testament aus Rapperswil und Neid...

Donnerstag Es ist eine Manie. Schon wieder hatte ich diesen Traum: Der Briefträger klingelt. Er bringt mir ein Schreiben. Und ich muss den Empfang unterschreibend quittieren? unterschreibend. Habt Ihrs kapiert? Das ist ein Gerundium.
ES GIBT IM ZEITALTER DER DAHINGESTOTTERTEN SMS-PROSA AUCH NOCH GERUNDIEN!
Ich nehme dankend (schon wieder!) die Epistel in Empfang? die Hände des Boten mit einem üppigen Trinkgeld salbend (was sagt Ihr jetzt? wenn man mal drin ist!).
Mein Herz klopft. Denn endlich ist er da: der Brief vom Erbschaftsamt Rapperswil? GLÜCK VERHEISSEND.
Das Netteste an Zürich und Umgebung ist Rapperswil? und das Allernetteste: mein uralter Grossonkel Otto.
Das Allerallerallernetteste ist, dass der Onkel stinkreich und jetzt tot ist. Ich bin sein einziger Erbe. Na gut, da sind noch ein paar ganz, ganz weit entfernte Nichten? aber Otto war der Bruder meines Grossvaters mütterlicherseits. Und von dort kam die Knete.
Onkel Otto hat sein Glück nach dem Krieg mit Eiskästen gemacht. Er war schon immer von eher kühlerer Natur gewesen (nicht nur Gerundien? auch der praktizierte Genitiv!). Als meine Mutter den Erzeuger ihres schönsten Kindes bei ihm vorführte, reagierte er eisig: «Der käme mir nicht mal ins Gefrierfach!»
Papa, damals noch Linksaussen im Gewerkschaftsclub der Sozialdemokraten, tat Otto sogleich als «einen dieser elenden Kapital-Wixer» ab.
Mutter versuchte zu vermitteln. Ihr ganzes Leben bestand aus Vermitteln zwischen Vaters grobschlächtiger «am Arsch ist Finster!»-Familie. Und ihrer eigenen Sippe, wo der Honig nicht vom Finger geleckt wurde.
Das Kind jedoch stand zwischen Honig und Arsch. Es war orientierungslos.
Natürlich durften wir Onkel Otto nur heimlich besuchen. Mutter topfte bei solchen Gelegenheiten ihren Riesenhut auf, zog sich die Handschuhe über und garnierte drei Gläser Quittenkonfitüre mit Restenstoff und Schleifen: «Onkel Otto liebt Eingemachtes...»
Ich schätze, dass Mutter das Eingemachte des Onkels im Auge hatte. Jedenfalls wurde ich aufgerüscht wie eine Geburtstagstorte. Derart lackiert fuhren wir mit dem Zug an den Zürichsee. Und Onkel Otto, der sich einen blutjungen Gärtner-Koch leistete, liess Felchenfilets an goldbrauner Butter mit leicht gerösteten Mandelsplittern zubereiten. UND DAS WAR NUR DER ERSTE TELLER. Danach kam das obligate Zürcher Geschnetzelte, welches Heinz-Erwin (so hiess der kochende Lakai) mit Büchsenchampignons und (damals eine Sensation!) fein geraffeltem Ingwer aufmotzte. DAS WAR ETWAS ANDERES ALS DER HEIMISCHE KLÖPFER MIT SENF.
Sicherlich war ich in den Augen meines Vaters ein Verräter. Aber ich verzieh Onkel Otto, dass er reich war. Ich nahm beim Abschied auch gerne seinen Fünfliber als «Lebe wohl»-Geschenk ohne gross zu Hinterfragen an. Das Einzige, was mir missfiel, war die Ermahnung: «Fürs Bankbüchlein? Du hast doch ein Bankbüchlein?!»
Hätte ich ihn unglücklich machen und erzählen sollen, dass die politische Gesinnung meines Vaters das Geld mit der Gewerkschaft teilte? Und dass ich besser daran war, den Fünfliber noch vor der Einfahrt in Basel in währungssichere Cola-Frösche anzulegen?
OH NEIN. Mutter gab mir einen Stoss und ich knickste artig: «Jawohl, lieber Onkel? ich spare und will auch mal so reich werden wie Du. Denn dann ist das Leben schön und voll von Zürich Geschnetzeltem...»
Später habe ich allerdings gemerkt, dass die übrige Welt auf Reichtum immer gleich grantig reagierte, wie mein Vater auf Onkel Otto. Zwar kaschierte es Tante Nettchen mit Seufzern wie «jeder hat halt sein Bündeli zu tragen», wenn sie aus der «Illustrierte» genüsslich die Skandale um die Buckinghams reinzog und lesen musste, dass die Königin wegen ihrer Balgen wieder mal Zoff hatte: Aber ich spürte schon bald, dass dies nur kaschierte Schadenfreude war.
Ich kapierte auch sehr schnell, dass dieses Bündeli der Reichen ziemlich schwerer wog als das der Armen. Es war und ist immer mit Tonnen von Neid der anderen vollgepackt. «Jeder muss mit denselben Ellen gemessen werden!», tobte mein Vater jeweils an seinen politischen Versammlungen, «ES DARF KEINE PRIVILEGIEN GEBEN!»
Natürlich war dies reine Schönrederei. Denn sicher ist, dass die Reichen nie mit denselben Ellen gemessen wurden wie die Armen. Sie hatten es immer schwerer. Man schaute ihnen dreifach auf die Finger? und wenn irgend ein beamteter Sesselfurzer für sein Reihenhäuschen eine Sommerloggia aus rosa Eternit baute, lachten die Kollegen der zuständigen Behörden nur. Doch wenn einer der Reichen ein Fenster auswechseln wollte, schalteten sich gleich der Staat, die Baukommission, der Denkmalschutz und ein Heer von Neidern ein.
DIE REICHEN SIND DIE ARMEN.
Nichtsdestotrotz stehe ich dem Schreiben aus Rapperswil positiv gegenüber. Ich nehme den Neid der Welt gerne auf mich, um an die Pinke des lieben Verstorbenen zu kommen.
RITSCHRATSCH!
Den Brief öffnend, wird mir schon bei der ersten Zeile schwarz:
DER ONKEL HAT SEINE MILLIONEN DIESEM MIESEN FELCHENFILET-KOCH VERMACHT!
Milliarden von Cola-Fröschen schwimmen bachab? «am Arsch ist finster», würde die Seite meines Vaters sagen. Hämisch grinsend (Gerundium).

Donnerstag, 21. August 2008