Zimmerherren willkommen...

Tildy schaute den Mann unter der Türe lange an. Dann gab sie sich einen Ruck: «In Gottes Namen. Aber nur für eine Nacht. Das Schild ist passé...»
«ZIMMERHERREN WILLKOMMEN» stand in alter Schrift auf dem weissen Email. Als der letzte Herr für immer gegangen war, wollte Tildy die Tafel abschrauben. Aber die Zeit hatte die Nägel ein­rosten lassen. So blieb es an der Mauer der alten Villa als Relikt einer vergangenen Zeit.
Tildys Mutter Louise hatte drei der oberen Zimmer ihrer Villa vermietet. Als junge Witwe eines Apothekers, der aus Versehen Arsen mit Süss­pulver verwechselt hatte und nach dem ersten Schluck Tee nur noch «OH GOTT» hauchen konnte, war sie auf einen finanziellen Zustupf angewiesen. Otto hatte ihr nicht nur das Büchslein mit Arsen, sondern auch ziemlich viele Schulden hinterlassen. Dazu Tochter Mathilda.
Tildy, wie diese von ihrer Mutter zärtlich gerufen wurde, wuchs so mit verschiedenen «Herren» auf. Louise nannte sie alle «die Herren». Den kleinen, dicklichen Vertreter, der sich als Geschäftsreisender in Sachen Nylonstrümpfe vorstellte. Und den Louise an einem Buss- und Bettag (ausgerechnet!) mit dem Bibellehrer von «Salon 2» (Louise redete nie von Zimmern, nur von «Salons») in eindeutig zweideutiger Pose im Bett überraschte. Dann war da der Hochseiltänzer, der im Sommer mit einem Zirkus auf Tournee ging und den Winter bei Louise und Tildy in Salon 3 verbrachte? allerdings nur bis zu jenem Jahr, als er von Hochseil auf Dompteur umgesattelt hatte. Und Louise, als diese arglos das Bett frisch beziehen wollte, am Fussende ein Löwe entgegenfauchte. Der Dompteur musste samt Anhang SOFORT gehen.
Nachfolger Uwe Widmer hatte ein etwas angeschlagenes, aber doch heisses Herz. Als er nach zwei stärkenden Cognacs allen Mut zusammennahm und Louise in deren Schlafzimmer aufsuchte? musste auch er gehen.
Die Zimmerherren wurden jeweils höflich, aber bestimmt zurechtgewiesen. Als kleine Versöhnung offerierte ihnen Louise ein Tässchen Tee. Die Herrschaften griffen froh, so schlank davon gekommen zu sein, zu. Dann sagten sie wie schon Otto selig «OH GOTT». Und gingen diesen Weg, «den wir alle einmal gehen müssen» (wie die Mutter ihre Lebenserfahrung an die Tochter weitergab).
Gemeinsam wurden die so abservierten Herren im Keller der Villa mittels eines Fasses voller ­Salzsäure aufgelöst. Man darf ruhig sagen: EINE GUTE LÖSUNG FÜR ALLE.
Als Louise dann von einer Fischvergiftung dahingerafft wurde, hielt sich Tildy noch ein paar Jahre Zimmerherren. Der letzte, ein Herr Gobeli und Lektor eines pornografischen Buchverlags, wog gut und gerne 120 Kilos. Tildy schaffte es kaum, ihn ins Fass zu bekommen. Da schwor sie sich: «Das ist der letzte!»
«Ich mache Ihnen ein Tässchen Tee», lächelte sie nun freundlich zu dem mageren, grossen Mann, der sich als «Max Binz? alleinstehend» vorgestellt hatte. Tildy war eine praktisch denkende Frau und konnte sich mit dem weissen Pulver im Tee das Anziehen des Betts ersparen.
Als sie die Tasse im Fernsehzimmer aufs Tischchen stellte, spürte sie einen dumpfen Schlag. «OH GOTT», hauchte sie noch.
Der Gauner Max Binz fand unter den Matratzen von Salon 1, 2 und 3 einige Barschaft. Er rieb sich die Hände: «Ein guter Tag!»
Dann nahm er zufrieden einen Schluck aus der Tasse.

Montag, 17. September 2012