Über die Klinge gesprungen

Hannchen flog noch einmal über die Tasten.
Ihr kleines Mündchen war ein verbissener Strich.
Ihre Augen blitzten Gift und Galle.
«So!»? knurrte sie zufrieden. «... und jetzt fahrt alle zur Hölle!»
Hannchen hatte in diesem Moment den Computer des Weltunternehmens Fresh-Mouth & Co umfrisiert.
Genauer: das Buchhaltungsprogramm.
Dieses Programm, das sie jahrelang in vielen Stunden selber entwickelt hatte. Und das nun so ein Arschloch aus den Staaten übernehmen sollte.
Hannchen leerte die Schubladen. Warf drei Kugelschreiber in den Sack: Mouth-Luck stand in rosiger Schrift darauf. Das war vor der Fusion, damals, als Fresh-Ambiance die Firma noch nicht geschluckt hatte.
Als alle in der Fabrik erstmals nervös von einer «ÜBERNAHME» zu tuscheln begannen, schüttelte Hanne gereizt den Kopf: «Hopp, hopp? an die Arbeit.» Sie hasste es, wenn Effizienz in der Gerüchteküche verbrodelt wurde.
ABGESEHEN DAVON HATTE SIE DAMALS WICHTIGERE PROBLEME. IHR SPESENPROGRAMM DER MUNDWASSERVERTRETER WAR ABGESOFFEN!
Auch als die Medien mit «VERLUST VON 400 ARBEITSPLÄTZEN IN DER REGION» loslegten, liess Hanne dies kalt. Jetzt war es das Lohnprogramm der Mitarbeiter, das sie in Anspruch nahm. Es hatte aus Versehen einer Reinigungsfrau 2'567'000 Franken überwiesen.
Hannchen kannte keine Ruhe. Keine Freizeit. Und obwohl ihre Freundin Marthe sie seit Jahrzehnten drängte, einmal mit ihr zur Kur nach Abano zu fahren, nutzte Hanne die Ferien, um ihr Computerprogramm zu verbessern: «Baden kann ich auch in meiner Wanne!», sagte sie zu Marthe.
Diese schalt sie eine dumme Kuh. Und wetterte:
«WOZU MACHST DU DAS ALLES... WER DANKT ES DIR?»
Hannchen wollte keinen Dank. Sie wollte einfach eine gute Buchhalterin sein.
Als der Personalchef sie zu sich rief und ihr einen Espresso anbot, war sie zuerst geschmeichelt. Fünf Minuten später wusste sie, dass die frisch fusionierte Firma für Hanne keinen Platz mehr hatte:
«Einer muss immer über die Klinge springen...», sagte Herr Bachel und spreizte geziert die Hände.
«Ein amerikanischer Kollege wird Ihre Arbeit übernehmen. Aber natürlich werden wir Sie gut abfinden und...»
Zu Hause sass sie erstarrt am Tisch.
«Jetzt gehen wir zuerst einmal nach Abano»? Marthe drückte Hanne an sich? «Fango ist gut für Leib und Seele...»
Als Hanne dann zum letzten Mal ihr Büro verliess, wusste sie, dass sie ein Chaos hinterlassen hatte.
Mit ihren Manipulationen würde dieser Trottel aus Chicago nie zurande kommen. Auf den Knien würde man sie zurückholen.
Es ging dann auch nur knapp einen Monat, bis das Telefon schellte. Und Herr Bachel sülzte:
«Ja liebe, liebe Frau Hannchen... ich darf doch so sagen? WIE GEHT ES UNS DENN?»
Etwas später sass sie wieder in seinem Büro. Und dieser Schleimer flehte: «Doppelter Lohn, Frau Hannchen...»
Sie wehrte geziert ab.
«Also? das Dreifache. Wir wissen jetzt, was Sie alles geleistet haben. Bitte betrachten Sie es als Nachzahlung... ohne Sie geht hier gar nichts und dieser Depp aus den USA...»
IN DIESEM MOMENT SCHELLTE WIEDER DAS TELEFON.
«Nehmen Sie doch endlich den Hörer ab...», bellte Hanne gereizt. Aber es schellte. Und schellte. Bis sie endlich wach wurde. Und eine Stimme sich meldete:
«Signora Hanna? es ist 5.30 Uhr. In einer halben Stunde beginnt ihre Fango-Packung...»

Montag, 14. Mai 2012