Sudoku zum Frühstück

Sie sassen beim Frühstück.
Kaffee gabs in der Kanne. Filterkaffee. Sie kannten es nicht anders. Und sie wollten es nicht anders.
Er las die Zeitung. Sie setzte Zahlen ins Sudoku.
Schüttelte den Kopf. Biss auf den Bleistift. Gummelte eine Ziffer aus. Schüttelte wieder den Kopf, so dass sich einer der sechs groben Lockenwickler auflöste.
«Es hat schon genug Butter im Zopf, Karli...», sagte sie ohne aufzuschauen.
Karli hatte sich die weisswattige Brotscheibe fingerdick gestrichen. Legte mit Konfitüre nach.
Und antwortete nicht.
Die Konfitüre tropfte auf seine Finger.
«Nimm ein Stück Küchenpapier», sagte sie.
Wieder ohne von ihren Ziffern hochzuschauen.
Sie waren nun 50 Jahre verheiratet. Die Kinder hatten es als Event gesehen. Und eine SURPRISE-PARTY organisiert.
Olgi leistete sich einen neuen Hosenanzug.
Trevira. Mit Stretch-Garn. «Das trägt nicht so auf», hatte die Verkäuferin gesagt.
«Dumme Geiss!», dachte Olgi. Und lächelte: «Ich nehme ihn.» So wie sie das vor 50 Jahren zu ihrer Mutter gesagt hatte, als es um Karl ging.
Karl war nicht erste Wahl. Sie hatte schon Max und Lucien hinter sich gehabt? das galt in jener Zeit bereits als leicht «verrucht». «Karl ist bodenständig. Eine Frau braucht einen Mann, auf den sie bauen kann...», hatte die Mutter ihr beim Geschirrwaschen das Wort zum Tag vorgezetert.
«... und du bist keine Neuware mehr!»
«Dumme Geiss», hatte Olgi gedacht. Und gelächelt: «Ich nehme ihn!»
Er war kein Adonis. Schielte ins Ungewisse. Und hatte einen Bauch.
Die Hochzeitsnacht wurde zur Katastrophe. Er war schon explodiert, als er ihr den Büstenhalter öffnete.
«Hol ein Küchenpapier»? hatte sie gesagt.
Die Kinder waren ihre Freude? die Kinder. Das Haus. Später Sudoku.
Von Max wusste sie, dass er es bunt trieb.
«Thai-Weiber!» tratschte Olgis Mutter genüsslich herum. Und Lucien soll nach der Affaire mit Olgi das Ufer gewechselt haben (wie man damals so sagte). Sie hatte von den Ex-Lovers nie mehr etwas gehört.
BIS ZUR SURPRISE-PARTY.
Karl sah in seiner alten Hochzeitshose aus wie ein gesottenes Würstchen kurz vor dem Platzen.
Nun riss bereits die Naht? es war Horror pur.
Aber: «... nach 50 Jahre Ehe brauche ich keinem mehr zu gefallen!», hatte er gesagt. Und seiner Frau den Arm getätschelt: «... jetzt haben wirs hinter uns, nicht wahr, Olgi?»
Im Restaurant hatten sie Tischkarten mit goldenen Engelchen drauf. Die jüngste Tochter liess eine Hupe jaulen? sie war Eventmanagerin in einer Warenhauskette. Und an diesem Ehrentag der «Chef de Plaisir», wie sie nach der Hupe lustig verkündete. Dann: «Wir haben eine Tour d'Horizon durch euer Leben geplant!»
Überraschungskiste mit Überraschungsgästen? Frau Iseli, vom Gemüseladen. Olgi konnte sie nie ausstehen, weil die Iseli ihr stets ein paar angefaulte Äpfel in die Tüte geschmuggelt hatte. Dann Metzger Wendelin mit den rosigen Fingern. Und Kurts alter Chef, dieser falsche Schleimer.
Schliesslich kamen auch Lucien und Max. Zumindest, was von ihnen übrig geblieben war.
Lucien hatte teerschwarz gefärbte Haare und eine vergoldete Kuh im Ohr. Er sah aus wie Frankenstein auf einer Regenbogenparty.
Max brachte eine kleine Schwarze am Arm. Das hätte er nicht tun sollen. Es liess ihn neben ihr uralt und käsig bleich erscheinen.
Als sie früh morgens ins Bett sanken, tätschelte Karl Olgis Arm: «Sie haben sich Mühe gegeben... aber ich bin froh, dass wirs hinter uns haben.»
«Ja», sagte Olgi. Und dachte an Lucien mit der Kuh im Ohr.
Am andern Tag sassen sie beim Frühstück.
Sie waren beide zufrieden.
Das Sudoku wurde nie gelöst.

Montag, 12. März 2012