Rote Zeichen

Die rauen Finger strichen über das kleine Stück Stoff.
Es war leicht angerissen. Rot. Ein Stück rote Vergangenheit.
Der Vater von Hans, ein überzeugter Kommunist, hatte ihm 1931 das Stoffabzeichen an den Pullover geheftet.
«HEUTE IST KAMPFTAG», hatte der Vater gesagt.
Und Hans war stolz? stolz, mit seinem Vater an der Seite für die grosse Sache in den Kampf marschieren zu können.
Vor dem Rathaus war ein Podium aufgebaut worden. Ein Mann schrie auf ein Mikrofon ein. Die Worte wiederholten sich in einem blechernen Echo. Die Männer auf dem Marktplatz applaudierten.
Schrien nun auch? die Echos und das Gebrüll wurden für den kleinen Hans zu einem faszinierenden Gemisch von Abenteuer. Revolution. Auflehnung.
Hans bewahrte sein erstes Erster-Mai-Abzeichen auf? ein Stofffetzchen, das damals noch Hammer und Sichel zeigte. Und von der Kommunistischen Partei der Schweiz als Kampfsignal verkauft wurde.
Später, als junger Gewerkschafter, heftete er sich das Fähnchen stolz ans Revers seiner Trämleruniform.
Es war nun aus Kunstseide. Und nicht mehr exklusiv kommunistisch. Andere Parteien waren auf den Revolutionskarren aufgesprungen. Und schrien mit.
Die Gattin mochte das windige Fähnchen nicht.
Sie riss es dem Gatten jeweils zornig von der Weste: «HALBSYYDE... typisch!»
Halbseide war in ihren Kreisen tabu.
Sie versteckte die Abzeichen. Damit er diese? wenn ihn der Teufel ritt? nicht in ihrer vollseidenen Familie für einen Franken herumbot.
Er machte sich in der Gewerkschaft stark. Für bessere Löhne. Für weniger Arbeitsstunden. Für mehr soziale Gerechtigkeit.
Mit den Jahren wurde er stiller. Eines Tages kam er heim. Sein Sohn sah ihn weinen. Zum ersten Mal in seinem Leben: «Ich verstehe die jungen Leute in meiner Partei nicht mehr», wischte er sich geniert die Tränen aus den Augen. «Sie brauchen Worte, die ich nicht kenne. Sie haben Ziele, die ich nicht kapiere...»
Die alten Genossen sassen nun am Stammtisch zusammen. Sie redeten dort ihre eigene Sprache.
Die jungen Parteileute, keine Arbeiter, aber verdiente Akademiker oder Studenten klopften dem jungen Sohn auf die Schultern: «Dein Vater ist noch ein echter Kämpfer!»
Das hätte der Vater verstanden. Und sicher gerne gehört.
Als das rote Fähnchen gegen einen Mai-Knopf ausgetauscht wurde, holte der Alte sein altes Erster-Mai-Fähnchen hervor. Das «M» vom Kampftag war verblasst. Hans pinnte das Fetzlein an seine abgetragene Wolljacke. Trämleruniform hatte er jetzt keine mehr. Er war pensioniert.
Seine Frau brachte ihm eine Handvoll alter Erster-Mai-Abzeichen: «Das sind die Halbseidenen, die ich dir damals abgerissen habe...» Die Kinder ihrer vollseidenen Seite waren fast alle politisch tätig. Sie theoretisierten über Soziales. Sie setzten sich in Szene. Mobilisierten ihre Parteifreunde in den Medien: «Politik ist heute mehr als Kampf, Hans», sagten sie. «Politik ist Engagement mit der richtigen Nase für Public Relations...»
Hans verstand wieder nur Bahnhof.
Noch viele Jahre hat er an einem Ersten Mai die alten Seidenabzeichen aus einer kleinen Schatulle geholt. Stück für Stück haben seine rauen Finger die Vergangenheit abgegriffen. Dann hat er sie wieder versorgt. Und seine Enkel angerufen: «Was macht ihr am Ersten Mai?»
«Party», lachten die.
Als er starb, kamen die Politiker aller Parteien zur Abdankung.
Sie schüttelten dem Sohn die Hand: «Dein Vater war ein echter Kämpfer...»
Schade, dass er es nie hören konnte.

Montag, 30. April 2012