Rosa Rosen

Hildi stierte auf die vergammelten Blumen.
Sie lampten in abgeschnittenen Plastikflaschen.
Ein Kerzenlicht flackerte gereizt im Wind.
Daneben stand ein vergilbtes Foto im schmutzigen Plastikrahmen.
ES WAR ERNA. ROSENERNA.
Jemand hatte mit braunen Klebstreifen eine Todesanzeige auf die Sitzbank im Parkhaus geklebt.
Auf dieser Sitzbank hatte Erna ihre Rosen angeboten. Gelbe. Weisse. Rote. Vor allem rote.
Erna war ein stiller Punkt in einem windigen Parkhausgang, wo die Leute jeden Tag von ihren Autos weg ins Leben hinaus jagten. Für eine winzige Sekunde zeigte der Tag einen rosigen Beginn, ein schüchternes Lächeln, eine blumige Gewohnheit. Die Rose mit der älteren Frau daneben war wie ein zartes Schulterklopfen:
«Na. Na. Wir werden den Montag schon meistern...»
Manchmal blieb jemand stehen. Wechselte mit ROSENERNA ein paar Worte. Kaufte eine Blume.
Das war jedoch selten. Hätte nicht der Staat ganz ordentlich für Erna gesorgt, wäre ein Leben mit Rosen nicht möglich gewesen. Beim Staat war sie Sozialfall Nr.10 342/A-b. Nicht ROSENERNA.
«Rosen sind mein Leben», hatte sie einmal Hildi angelacht. Daraufhin hatte sie Hildi insgeheim «ROSENERNA» getauft.
Hildi war Sekretärin in einer Anwaltskanzlei.
Als man sie mit 55 in Frühpension schickte, fuhr sie dennoch drei Jahre lang täglich mit ihrem Auto pünktlich aus dem Baselbiet ins städtische Parkhaus.
Und hastete an ROSENERNA vorbei, um draussen, wenn der Gang aufhörte, nicht genau zu wissen, was sie jetzt eigentlich mit sich und dem Tag anstellen sollte.
Einmal nahm sie sich Zeit (und auch den Mut), Erna anzusprechen. Sie suchte sich eine rosa Rose aus. Die Blumenfrau lächelte sie an:
«Die rosafarbenen sind meine Liebsten. Sie halten auch länger. Ich weiss nicht weshalb. Ich habe ein Leben lang Rosen geliebt, mich mit ihnen befasst? aber man kommt nicht hinter ihre Geheimnisse...»
Sie streckte Hildi die Blume entgegen.
«Aufgepasst. Sie hat Dornen. Ich bringe es nicht übers Herz, den Rosen die Dornen wegzurasieren. Sie gehören zu ihnen? wie zum Leben auch...»
«Ja», sagte Hildi. Und stach sich prompt in den Daumen.
Beim nächsten Rosa-Rosen-Kauf erfuhr Hildi, dass Erna vor einem halben Jahrhundert aus Prag in die Schweiz geflohen sei. «Das Land war immer gut zu mir. Ich konnte leben. Überleben...»
Dann lachte sie: «Ich habe mich mit den Rosen über Wasser gehalten. Aber soweit, dass ich mir selber eine kaufen konnte? so weit hat das rosige Leben nie gereicht...»
Hildi kaufte nun jede Woche eine Rose für sich.
Und machte aus dem Montag den Rosenmontag:
Schwatz mit Erna. Dann Caffè Macchiato im italienischen Pizza-Tempel. Und Rückfahrt nach Hause.
Sie lebte von einem Rosenmontag zum andern.
Dazwischen gabs nicht viel. Eigentlich: nichts.
Eine böse Grippe hatte Hildi erwischt. Sechs Wochen lag sie in den Federn. Als es ihr besser ging, fuhr sie in die Stadt. Dann sah sie die welken Blumen in den Plastikflaschen. Und Ernas Bild.
Es war eisig im Durchgang zu den Autos. Hildi spürte, wie ihre warmen Tränen zu eisigen Perlen wurden. Langsam ging sie hinaus ins Leben.
Im Blumengeschäft kaufte sie eine rosa Rose.
Die Leute, die nun am kleinen Totenplatz von Erna vorbeihasteten, sahen jeden Montag eine frische, rosa Rose in der Plastikflasche.
Die Foto daneben war nun verblasst. Ein gelbliches Nichts.
Eines Tages fehlte auch die rosa Rose.

Montag, 5. März 2012