Küsse im Lift

Herr Raabe sagt: «Küssen kann man nicht alleine.»
Max Raabe ist ein netter Mann. ABER HERR RAABE HAT KEINE AHNUNG.
Denn: Man kann.
Im Haus mit den vielen Anderthalbzimmerwohnungen, das mein Vater an der Colmarerstrasse hochzog, gabs einen Lift. Er hatte rote Wände. Einen Alarmknopf. Und er hatte einen grünen Kunststoffteppich, auf dem «welcome» stand. Meine Mutter bemängelte im Lift das Nichtvorhandensein eines Spiegels. «Wie soll ich sehen, ob meine Frisur sitzt, Hans?», so nervte sie meinen Vater. Ihm war die Frisur wurscht. Er strich sich das schüttere Haar mit Brillantine glatt. Und setzte die Trämlermütze auf. Fertig. Meine Mutter aber hatte neu den Haarspray entdeckt. Ihre Frisuren gaben schon damals zu reden wie heute der Turm von Roche. Und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, hatte sie gar eine Stufe höher gebaut.

ABER DAS IST NICHT DAS THEMA. Das Thema ist der Kuss. Und der kam mit dem nun eingebauten Liftspiegel. Während meine Mutter künftig also Make-up, Turmfrisur und die Pickel auf der Nase kontrollierte, schaute das Kind sich im Spiegel lange an. Was es sah, gefiel ihm. Es gefiel ihm so sehr, dass es mit den Lippen das Glas berührte. Und das Spiegelbild küsste.
«DER BUB HAT EINEN KNALL!», jammerte der Erzeuger bei der Mutter seines schönsten Kindes. «... da bin ich mit dem Kleinen im Lift. Und der schlabbert sich doch tatsächlich spiegelbildlich seine eigene Fresse!» Mutter nahms gelassen: «Andere Kinder schnupfen Kokain!» Dann zu mir: «Wenn du schon narzisstische Anfälle hast, dann putz verdammtnochmal nachher den Spiegel sauber. Der sieht doch aus, als wäre eine Schnecke darübergezogen...»
Doktor Mägerlein, mein Seelenklempner, legte mich flach: «Weshalb tust du das, mein Kind?» Ich: «Es ist ja sonst niemand zum Küssen da...» Herr Mägerlein sagte dann das, was Herr Raabe heute in der Rockpopkultur herumsingt. «Küssen kann man nicht alleine.» Was sollte der Scheiss? Ich war Einzelkind. Die Küsserei sparte mein Vater für die Kundinnen der 6er-Linie auf. Der Sohn bekam eine Kopfnuss.

Mit sieben Jahren küsste ich Luggi. Luggi war Louise. Sie verführte mich beim Doktorspiel auf ihrem Estrich. Als Luggis Mutter die Operation sah, schrie sie am Tatort hysterisch: «VERPISS DICH, DU UNHOLD!» Natürlich verpetzte sie mich bei Mutter. Diese nahm mich ins Gebet: «Weshalb hast du das getan?»
Das hatte ich mich auch gefragt. Luggis schmachtende Schmatzer brachten es nämlich überhaupt nicht. Der kühle Spiegel war mir lieber. Dazu unkomplizierter, wenn man von der Putzerei absah.
Es kam das Wort zum Tag. «Küssen darf man nur, wenn der Geküsste das auch will!» ACH, JA? Wie war das mit Tante Martha, die mich ungefragt an ihren prallen Busen knallte, hemmungslos das Kindergesicht mit den Lippen wie ein Karpfen abpflügte und dann? DAS ALLERÄRGSTE? auf ein Taschentuch spuckte, um ihre grellroten Spuren auf meinem Gesicht abzuwischen? DA KÜSSTE ICH LIEBER ALLEINE!

Heute leben wir in dieser «Küsschen, Küsschen!»-Zeit, wo wildfremde Menschen an deine Backen gehen. Und drauflosschmurzeln. Am schlimmsten sind diese Happy-Hour-Stunden, wenn der Atem dieser Münder nach abgestandenen Cüpli oder säuerlichem Bierdunst schmeckt. IGITTIGITT!
Kürzlich nun bin ich beim Zahnarztbesuch im Lift stecken geblieben. Gottlob war ein Spiegel drin. Die Feuerwehr holte mich nach 40 Minuten von meinem eigenen Bild weg? der Abwart hat dann 60 Minuten das Glas geputzt.
Wie gesagt: Herr Raabe irrt. Aber es ist trotzdem ein nettes Liedlein.

Montag, 28. Februar 2011