Jekami

Der letzte Ton der Arie war verklungen.
Die Primadonna schloss die Augen. Dann spürte sie, wie der frenetische Applaus wie eine warme Welle über sie hereinbrach. Langsam verneigte sie sich? eine Verbeugung, so tief es nur ging.
Eigentlich hiess sie Frederike Gröflin. Aber im Programm stand «Donatella Donati». Sie hatte immer eine Schwäche für italienische Namen gehabt.
«Fritzi» hatten sie ihre Eltern gerufen. Und schon bald gemerkt: «Die Kleine hat eine schöne Stimme.» Fritzi sang beim Krippenspiel im Kindergarten. «Ihr Kinderlein, kommet» war ihr erstes Solo. Die Stimme klang so zart und zerbrechlich, dass die jungen Mütter auf den kleinen Stühlchen weinten. Später kam das Mädchen in den Kinderchor des Theaters. Und nahm mit 14 Jahren Gesangsunterricht bei Doktor Schramm: «Fritzi hat eine vielversprechende Koloratur? aber wir müssen hart daran arbeiten!»
Drei Mal die Woche ging sie zum Unterricht. Fritzi lernte, die Töne zu stützen, richtig zu atmen? die Schule interessierte sie nicht. Für Fritzi zählten nur Musiknoten. An jenem schrecklichen Tag, als sie durch die Maturprüfung rasselte, sang sie an der Schlussfeier das Solo im «Cantate Domino». Dann feierten die Maturandinnen ohne sie. Und Fritzi studierte mit Doktor Schramm Lucias Wahnsinnsarie ein.
Ihren ersten grossen Auftritt hatte sie auf der Freilicht­-Opernbühne von Bad Krozingen. Die Königin der Nacht war mit Sommergrippe ausgefallen. Man suchte fieberhaft nach Ersatz. Und Doktor Schramm, der im Festspielkomitee sass, meinte: «Ich habe da eine...»
Bei der Rache-­Arie patzte sie drei Mal. Das «Krozinger Wochenblatt» schrieb gnädig von einer «Unpässlichkeit in der Stimme der noch unbe­kannten Donatella Donati». Unter den Zuschauern sass auch der Operndirektor einer Schweizer Kleinstadt. Er brauchte eine Traviata. Und Fritzi gefiel ihm? weniger die Stimme als das andere.
So kam sie auf die Schweizer Bühne. Und erhielt ganz passable Kritiken? besonders für ihre Schluss­-Szenen. «WIE SIE STIRBT KEINE!» titelte gar ein Berner Feuilletonredaktor.
So starb Fritzi alias Donatella Donati rund 60 Mal als Traviata (vier Mal auch als Lucia), bis die Stimme brach. Und nur noch heisere Fiepstöne herausbrachte.
Fritzi heiratete dann einen Buchhalter, den Herrn Gröflin, und breitete später an Geburtstagsfesten vor den Enkeln die vergilbten Fotos aus, die sie hochdramatisch auf einem Sterbebett zeigten: «EURE OMI WAR DONATELLA DONATI? EINE GROSSE PRIMADONNA!» Dann leicht verbittert: «Ich habe meine Karriere für die Familie aufgegeben.» So hatte sie ihren Stimmverlust mit den Jahren in ein ganz persönliches Opferdrama umkomponiert.
Im Altersheim «Zur frohen Runde» gabs immer am Freitagabend JEKAMI. Hier hatte Donatella Donati ihr zweites Debüt. «BRAVISSIMA!»? Fritzi hörte die Rufe. «Passen Sie auf Ihren Rücken auf!», sagte die Heimleiterin Bitterli und holte sie aus allen Träumen und aus der tiefen Verbeugung zurück. Fritzi humpelte vom Podium runter. Die Heimbewohner schnarchten mit offenem Mund auf ihren Stühlen.
«Herr Matter wird uns nun ein Gedicht aufsagen», sagte Frau Bitterli. Herr Matter hatte als junger Mann bei der Laiengruppe «Vorhang auf» während drei Jahren die Heldenrollen besetzt.
Nun: «Die Glocke...» Nach einer Minute schlief auch Frederike Gröflin alias Donatella Donati auf ihrem Stuhl.

Montag, 12. November 2012