h-Moll

Alfreds Kopf kippte langsam nach vorne.
Seine Augen waren geschlossen.
Dafür öffneten sich die Lippen. Und stiessen etwas warme Luft aus.
Milli schielte von ihrem Plüschsessel zu ihrem Alten. Dann kickte sie dem mit dem Ellbogen in die Rippen.
«WASS ISS?!»? fuhr Alfred vom Sitz hoch.
«PSSSSST!»? sagte Milli. Und schaute stur geradeaus.
«PSSSSST!»? zischte es auch von der Reihe hinter ihr.
Der Geiger vorne auf dem Podium hielt ebenfalls die Augen geschlossen. Aber er pennte nicht. Er war von sich und Brahms entzückt. Die Sache war jetzt beim 3. Satz. Dieser in D-Dur.
Bei D-Dur döste Alfred immer weg.
«Weshalb müssen wir eigentlich in diese Konzerte gehen? Du schläfst doch jedes Mal ein und...»
Diese Diskussion war so ausgelutscht wie ihre Ehe. Sie endete stets mit: «Ach, was verstehst du denn...!»
Milli kränkten solche Worte. Okay. Sie kam nicht aus diesen alten Familien, auf die sich diese kleine Stadt mit dem Kulturtick so viel einbildete. Da gehörten die Abonnementskonzerte zum Lebensstil wie diese schreckliche Brautgastierung, als Milli offiziell der Familie samt Basen und Vettern vorgeführt wurde. Jedermann taxierte die junge Frau wie das Rind an der Viehschau.
Fazit: Sie reihten sie als «Ackergaul aus nicht reinrassigem Gestüt» ein.
NA DANKE! So vornehm wie diese verwitterten Besen in ihren naphtalin-flockigen Jackett-Kleidchen war Milli noch lange. Zwar hatte ihre Familie kein Sinfoniekonzert jahresgebucht. Dafür einen Maserati geleast. Und der tönte bei 160 Sachen fröhlicher als D-Dur.
Nicht dass Milli etwas gegen Musik gehabt hätte.
BEWAHRE. Nur war sie eher der Operetten-Typ.
Sie liebte dieses zuckersüss Eingängliche eines Strauss-Walzers. DAS WAR MUSIK! Aber eben die falsche, wenn man aus Alfreds Kreisen stammte.
Wie ein Wachhund sass sie jeweils an diesen Konzerten neben ihm. Wenn sich sein klein und schrumpflig gewordenes Köpfchen dann langsam nach vorne neigte, puffte sie unbarmherzig los.
Nur einmal war sie von den etwas zu satt geschnittenen Smokinghosen eines peruanischen Dirigenten so fasziniert gewesen, dass es zu spät war. An einer dieser Stellen, wenn die Instrumente plötzlich einfrieren, die stille Pause zum spannungsgeladenen Ton wird? also da hatte Alfred diese Spannung durch ein schnorchelndes Geräusch (das tönte, als sei die Sau am Trog) jäh durchbrochen.
«OHHH!», hielten sich die Leute entsetzt die Hände vor den Mund.
Sogar der Dirigent drehte sich wütend um. Und Milli sah, dass auch vorne die Hose sehr knapp sass.
An jenem Tag als STRAUSS auf dem Programm stand, wollte Milli sich nicht um den Genuss bringen lassen. Sie besorgte in der Apotheke reines Koffein. Mixte dies Alfred unter sein «Abend-Müesli». Und hoffte, das Mittel würde ihn wach halten. AUF DASS SIE SICH UNGESTÖRT DEN WALZERTÖNEN HINGEBEN KONNTE.
Tatsächlich kam dieses Mal keine warme Luft, kein Grunzen der Sau. EINFACH NICHTS. Dennoch war das Köpfchen kurz vor der Pause leicht vornübergeneigt.
«Exitus»? stellte der Arzt in der Pause fest.
Sie verliess den Konzertsaal mit der Leiche. Und etwas ungehalten. Man hatte ihr STRAUSS versprochen? und statt fröhlicher Walzermelodien war da eine Klaviersonate in h-Moll eines gewissen Richards losgeklempert.
H-Moll hatte Alfred schon immer arg zugesetzt.

Montag, 30. Juli 2012