Abstellgleis

Die Leute schauten weg.
Die einen genierten sich für den keuchenden, sturzbesoffenen Alten.
Die andern interessierte er nicht.
Alle blickten gebannt auf Laptops oder iPhones.
Einige hatten die Ohren mit Knöpfchen zugedrückt? fingerbeerengrosser Kunststoff, aus dem man Musik wimmern hörte.
Obwohl der Zug gerammelt voll war, blieben die Plätze rund um den Alten leer.
Der Alte hatte nun in seiner Ecke zu schnarchen begonnen. Ein junger Kontrolleur hatte ihn vor einer halben Stunde angetippt. «HALLO? SOOOO GEHT DAS ABER NICHT!»
Der Alte hatte sich ächzend gedreht. Dabei sabberte er geräuschvoll. Dann schlürfte er laut auf? und schnarchte weiter.
Etwas hilflos hatte der Kontrolleur in die Runde geguckt. Doch da waren nur Menschen, die auf Kleincomputer stierten. Oder mit geschlossenen Augen und musikgestopften Ohren dem Unschönen dieser Welt entrückt waren.
Also hatte der Zugbegleiter die Schultern gezuckt: «JA DANN...» Und der Alte schnarchte noch drei Stunden weiter.
Als Albi die Augen öffnete, war es im Eisenbahnwagen eisig kalt. Die Fenster waren beschlagen. Er rieb einen Teil der Scheibe mit dem Mantelärmel klar? «CHIASSO» zeigte ein blaues Schild hinter dem Geleise. «Wieder einmal in Chiasso», brummelte Albi. Dann hustete er. «... und immer wieder auf dem Abstellgleis.»
Schon als Kind war Eisenbahnfahren seine Flucht gewesen. Am Tag, als die andern mit ihren Schulsäcken zum ersten Mal in den Holzbänken sassen, sass er im Zug nach Brig. Sein Vater hatte ihn daraufhin blau geschlagen. Das konnte aber die Liebe zur Schule auch nicht wecken.
Immer, wenn Schwierigkeiten anstanden, fuhr er davon. Auch damals, als er Lotte hätte heiraten sollen? er sass im schwarzen Hochzeitsanzug im Zug nach Brig. Sternenhagelvoll. Die Braut hatte zwei Stunden vor dem Altar gewartet. Lores Mutter zeterte: «Ich hab dich immer gewarnt!»
Es lief ihm dann alles aus dem Ruder. Und immer wenns ganz arg kam, setzte er sich in den Zug.
Und haute ab.
Einem Psychologen, der ihn in der Strafanstalt betreute (Albi hatte einen Uhrenladen überfallen), erklärte er: «... es ist nicht einfach ein Davonfahren.
Ich denke immer, da kommt mal einer.
Setzt sich zu mir. Und gibt mir die Hand:?Komm... ich bringe dich in ein besseres Leben?!?»
Der Psychologe nickte einfühlend: «Ja. Sie wollen erlöst werden. Wie wärs mit den Anonymen Alkoholikern?»
ALBI FAND, DER PSYCHOLOGE SEI EIN ARSCH.
Mit den Jahren stürzte er immer tiefer. Albi hatte nun kein Zuhause mehr. Er übernachtete mal im Männerheim. Oder? wenns wärmer wurde? im Eingangsbogen einer Kirche, die seit vier Jahren geschlossen war.
Manchmal, wenn er es einfach nicht mehr aushielt, investierte er seine letzten geschlauchten Franken in Hochprozentiges. Schüttete sich voll.
Und hockte in einen Zug.
Irgendwann erwachte er auf einem Abstellgleis.
Wie dieses Mal auch.
Als er sich vom Schild «CHIASSO» abwandte, sah er den Mann vis-à-vis.
«Hallo», lächelte der.
«Hallo», sagte Albi. Er war nun topfnüchtern.
«WAS WOLLEN SIE...?»
Der freundliche Mann streckte ihm die Hand entgegen: «Ich möchte Sie in ein besseres Leben bringen...»
Am andern Tag brachten die Zeitungen eine kleine Notiz:
«ALTER MANN AUF DEM ABSTELLGLEIS ERFROREN.»

Montag, 2. April 2012