Von der Looping-Bahn und Stelzen

Illustration: Rebekka Heeb

Innocent müffelt: «Halt mir diese alte Schreckschraube vom Leibe!»

TYPISCH!

GESTERN NOCH VOLL MIT VERSCHMALZTEN KALAUERN: «HENRIETTE, HENRIETTE – bist so wunderbar und nette … SCHAU DEN ANDERN AN: SO FETTE!» Henriette: Rette! Rette!»

Und jetzt ist der «Fette» gut genug, um Innocent aus seiner eigenen Scheisse zu ziehen.

Ja pfeif den Heini!

Aber hallo – nichts der Fette tun!

Immer ist es dieselbe Leier mit dem alten Geilerian – erst gockelt er die Weibsbilder brünstig. Und wenn sie endlich bestiegen werden wollen, hat er Migräne.

SO AUCH JETZT: «ICH WILL DIESEN KLAVIERSCHRECK NICHT MEHR SEHEN!»

Zu spät. Sie klopft schon an die Türe. Und ist enttäuscht, wie sie mich sieht: «Ohhh… is niemand doo…?»

«ER HAT MIGRÄNE!», sagt der Niemand.

«Au mei… i wui mit Eych zem Proter. Y lod ain zemm e ne Stelzen… und a Ottakringer Misch-Biier»

Fertig Migräne.

Man muss die alte Pfeife nur zu einem Humpen rufen, schon wirft er die Krücken von sich. Und trillert wieder.

Vor einem Jahr noch hat es ihn in der Donaustadt flachgelegt: Veloweg… Stolperrand… Hörapparat auf «aus»… nervöses Schellengeklingel als fröhliches Vogelgezwitscher taxiert… SCHON IST ER AM BODEN!

Im «Christophorus», einem Krankenwagen, der in jedem Automobil-Museum als Antiquität durchgegangen wäre, lag er auf dem Schragen. Festgebunden wie ein Care-Paket. Über ihm das Bild des heiligen Christophorus. Unter ihm die Bettpfanne.

Zwölf Stunden dauerte die Reise mit den beiden Fahrern. Einer sass am Steuer. Der andere hielt Innocents Hand. Und erzählte ihm nicht stubenreine Witze.

Innocent bekam die Pointen nie mit, weil der Motor zu laut und der Hörapparat im Reisenecessaire war.

ALS IHN DIE WUNDERBAREN HÄNDE EINER SPITEX-PFLEGERIN IN BASEL ENDLICH ZUM KLO FÜHRTEN, HAT ER GESCHWOREN: «NIE MEHR WIEN!»

Und jetzt ist er trotzdem da.

Er hat einen Stock, damit er sich auffangen kann, wenn ein Radler im Ansausen ist. Innocent ist total begeistert von den vielen Biersorten, dem Backhuhn und der Imperialtorte. Jeden Tag scheucht er die Menschen in der Bimmelbahn mit der Krücke vom Senioren-Platz weg. So lässt er sich durch Sissis Wirkungskreis fahren. Sitzend. Zum Billigtarif. «Ach Henriette… DER PRATER! Die Musik. Die Maderl…»

Er macht eine Pause. Wirft sich in Pose. Versucht ein paar Operetten-Töne. Doch es ist «Heut geh ich ins Maxim…» Und das hat in Wien nichts verloren.

Pädagogisch geschult, gibt uns Fräulein Henriette Wissenswertes durch: Der Prater sei viel grösser, als der Tourist es sehen könne. Nämlich sechs Quadratkilometer. Mit Wiesen. Und Wald. Und Teichen. Und Wildschweinen. Und: «Ich dachte, es sei nur das Riesenrad und die paar Bahnen.»

Fräulein Henriette schaut mich supergescheit an: «Eben net – dös isch nur der Wurschtel-Prater. Und der isch gonz klaan.»

Die Tram Nummer 5 fährt direkt zum Praterstern. Das ist im Norden des riesigen Geländes. Und weit weg von der Wildsau.

ABER HIER GIBTS DAS BERÜHMTE RIESENRAD. UND DAS DREHTE SICH ERSTMALS 1897 IM HEISSEN SOMMER.

Ja, wundert es einen noch, dass die Donaustadt die Nummer eins dieser Welt ist: DIE HABEN DEN DREH SCHON SEIT 120 JAHREN RAUS!

Die nette Henriette doziert jetzt am Ort der Freude ohne Unterlass: «S Reserl hott den Pork fürs Volk gmocht, s Reserl wor a guats Maderl.»

Mit «Reserl» meint sie Maria Theresia. Die Landesmutter hatte 1766 angeordnet, dass das wunderbare Gelände nicht mehr nur für die adligen Herrschaften zum Jagen von Braunbären, Hirschen und Schnepfen reserviert sein dürfe – KÜNFTIG SEI DER PRATER ÖFFENTLICH!

Die Gute liess dann Spazierwege anlegen. Und wird für ihr wunderbares Wesen noch heute von den Wienern ähnlich verehrt, wie Frittatensuppe oder Hans Moser. Sie haben sie gar in Bronze auf einen Thron gegossen – und so hockt Ihre Majestät von Tauben beschissen im Museumsquartier. Das Reserl wiegt eiserne 44 Tonnen und soll auch in Natura nicht viel leichter gewesen sein.

INNOCENT WILL NICHT AUFS GROSSE RAD. ER WILL AUF DIE OLYMPIA-BAHN.

Fräulein Henriette hält sich erschrocken an ihrem flachen Busen fest: «Do steh ma ja Kopf!»

Die Bahn dreht fünf Mal ein Looping, was Innocent kein Gramm abhält. «Davon träume ich seit Bub!» Er muss die Gehstöcke abgeben. Sie zupfen ihm die Brille weg. Bitten ihn, die Zähne ganz fest anzusaugen – und los gehts.

Sie jagen ihn fünfmal durch die Ringe. Er schreit und jauchzt. Und wie er wieder unten ankommt, taucht der Bahnbesitzer persönlich auf. «83 saans? Dös gibts net!»

Dann darf er nochmals gratis loopen.

STRAHLEND SCHÄLT ER SICH AUS DEM SITZ: «Jetzt will ich aber den Stelzen und das Bier.»

DIE BESTEN PRATER-STELZEN GIBT ES IM SCHWEIZER HAUS. Es ist dort allerdings weniger Schweiz als Bayern: URGEMÜTLICHKEIT … BIERSCHWEMME … UND SCHWEINESCHINKEN, DIE IN IHRER FORM WIE BASLER TRACHTENHÜTE AUSSEHEN. UND DEREN KRUSTE SO KROSS IST, DASS SIE ZWISCHEN DEN ZÄHNEN KRACHT, ALS WÜRDEN BEI JEDEM BISSEN HUNDERT RAKETEN EXPLODIEREN.

A propos Raketen: Die erste «Schau», die im Prater gezeigt wurde, war anno 1771: ein riesiges Feuerwerk, zu dem 10 000 Leute strömten. Der Italiener Peter Paul Girandolini liess es krachen. Und verlangte auch krachende Preise: sechs Gulden pro Sitzplatz. Das entsprach damals einem Viertel eines heutigen Beamten-Monatslohns.

«Wenn die weiter doziert, gebe ich sie an der nächsten Geisterbahn ab», zischte Innocent. Und liess sich einen zweiten Humpen mit dem «Ottakringer Gmischten» bringen.

«Was hott er?», will Fräulein Henriette wissen.

«Gar nichts», winke ich ab. «Er hat nur bemerkt, dass ihm bei den fünf Loopings die Hörgeräte rausgefallen sind.»

Dienstag, 15. Mai 2018