Fräulein Henriettes Guckloch und die Wiener Oper

Illustration: Rebekka Heeb

Fräulein Henriettes Auge klebt am Guckloch.
Ich kann das Gelbliche des Augapfels genau erkennen.
Es gibt kein Entweichen! WENN ICH DIE TÜRE ÖFFNE, ÖFFNET FRÄULEIN HENRIETTE AUCH: «So a Zuafall - kommts zemene Häferlkaffee?»
Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Kaffee-Arten es in Wien gibt. Beim Häferlkaffee aber handelt es sich um eine Brühe der schlimmsten Art.
Ausgeschenkt aus einem grossen Häferl. DES HALB: HÄFERLKAFFEE.
Und deshalb auch: «NEIN – ICH MUSS HERRN INNOCENT ABHOLEN!»
Das sage ich ganz deutlich. Und mit Genuss. Denn dieser alte Klimper-Drache von der Nachbarswohnung geht mir nicht nur mit ihrem «auf, auf, du junger Wandersmann» auf den Keks. Diese «Breslgeierin» (wie man hier noch ungestraft unangenehme Weibernennen darf) zieht mir mit ihrer zweihändigen Anmache den letzten Nerv raus… dauernd und in Dur!
Die Henriette also zieht einen Flunsch: «Sully Se zer Bohn beglaiten?»
«Der Herr Innocent fliegt. Adieu!» Das war abrupt. Aber bewusst.
Irgendwie muss ich mir diesen Besen losbinden.
Innocent wackelt mit seinem Rollkoffer und der Apnoe-Tasche zeternd aus dem Ankunftsbereich: «Das sind doch wirklich echte Armleuchter - sie haben mich bei der Zollkontrolle untersucht. Und natürlich haben meine Knieprothesen angegeben. Die fielen über mich her wie diese Porno-Tante über Herrn Trump. WAS SOLL DAS?!»
Erst jetzt sieht Innocent den Ballon, den ich mir ums Handgelenk gebunden habe. Darauf steht: «YOU ARE FAT… YOU ARE CRAZY… BUT I LOVE YOU!»
Schon am Handy habe ich ihn vorgewarnt: Ich bin dort, wo der Ballon ist.
Als die Flugtafel «ARRIVED» blinkte, schickte ich ein SMS: «GEH ZUM BALLON!»
Natürlich hat er dann alles vergessen - die Zöllner haben ihn mit ihrer Untersuchung total von der Rolle gewurstelt. Und des halb jetzt:
«Was soll der Mist mit dem Ballon? Wir habens ja auf den Haufen… NEIN. KEIN TAXI. WIR NEHMEN DIE U-BAHN!»
Es gibt einen Privatzug, der die Menschen in 17 Minuten vom Flughafen nach Wien Mitte transportiert.
Aber erstens wartest du eine halbe Stunde, bis er endlich die 17 Minuten abspult.
Und zweitens kommt die Fahrt für 2 Personen teurer als ein Taxi für 3. Denn der Ballon zählt auch.
Deshalb: «DER FAHRER WARTET SCHON DRAUSSEN!»
Es ist eine Überraschung. Und natürlich hat Innocent nie im Leben damit gerechnet: eine Velo-Rikscha mit einem pekinesischen Studenten auf dem Rad.
Der Student heisst auf Chinesisch Bo.
Er verbeugt sich mindestens so oft wie ein Wiener Kellner. Nur sagt er nicht «Hawedehre!». Er sagt: «Ansnallen – wil fallen loos!»
INNERT ZWEI STUNDEN RADELT UNS DER CHINESISCHE BO SAMT WEHENDEM BALLON AN DIE PICHLERGASSE.
«Ist das eine Überraschung», strahle ich.
Innocent strahlt weniger. Sein Hörapparat ist ihm bei der Holperdipolter-Fahrt heruntergefallen. Nun sucht er ihn auf dem Kunstleder-Fauteuil, auf dem auch eine chinesische Ess-Werbung die Bo-Kunden heiss machen soll: «JAPANISCHE SUSHI – CHINESISCH GEDRILLT!»
Innocent tut vor meiner Haustüre dann echt zickig: «Von diesem Rikscha-Gehampel ist mir richtig schlecht. Ich brauche zuerst einen Schnaps.»
Wie durch ein Wunder öffnet sich prompt die Nachbarstür: «So a Zuafall… y hoob e guatan Marillenbrand im Hausi…»
Dann zu mir: «Isch er des?»
UND SO HABEN SICH ZWEI GLEICHGESINNTE GETROFFEN:
DIE JUNGEN WANDERSMÄNNER GEHEN NICHT MEHR ÜBER DIE ALTEN PIANO-TASTEN – ABER ZWEI WELKE SUMPFHÜHNER ÜBER DEN SCHNAPS.
«Se saan a gemietligs Manderl… lossen sich vum Chineser hertrompeln… aumai!» Sie klopft Innocent auf den Bauch: «… und a guat Wamperter saans auch!»
Natürlich verdreht sich Herr Innocent wie ein Korkenzieher. Schmalzt Komplimente um sich – «so eine tolle Frau… und dann so musikalisch, wie der kleine Depp neben mir erzählt hat…ach Henriette, weshalb haben wir einander nicht früher kennengelernt!»
JA MUSS ICH DIESEN MIST WIRKLICH MITMACHEN?
ZUERST DIE LIESEL. DANN DIE HENRIETTE.
INNOCENT ALS ROMEO – UND IMMER AM BALKON!
UND WER FISCHT IHM DAHEIM DANN DIE ZÄHNE AUS DEM GLAS?!
Schamlos schmiegt sich mein Freund nach dem vierten Marillen-Brand an den schlaffen Henriette-Busen. Er nestelt an ihrem Stehkrägchen und sie kichert entzückt: «Saans net so nen Hudriwudri… MACHTS EUCH BAADE FRISCH. HAIT ABEND GEHTS INS OPERNHAUS!»
Natürlich ist der Besuch der Wiener Oper immer ein Ereignis. Aussen: dieser gigantische Historismus. Und innen siehts aus wie in der Ikea-Lampenabteilung.
«UND BIS DÖS OLLS PUTZT ISS», sagt Fräulein Henriette.
Der Kasten ist im19.Jahrhundert von den beiden Architekten Sicardsburg und van der Nüll konzipiert worden. Schon damals gabs im Volk Gestänker: Den einen war die Kiste zu bullig, den andern zu mies, und als sich auch der Kaiser nicht sehr freundlich über diesen «Scheiss mit Reis» äusserte, brachte sich Herr van der Nüll um. Sein Kollege Sicardsburg infarkte darauf hin tödlich. UND SO ERSCHIENEN DIE ARCHITEKTEN NICHT ZUR «DON GIOVANNI»-PREMIERE, MIT DER DAS HAUS VOR 149 JAHREN ERÖFFNET WURDE.
Fräulein Henriette hat uns «hintere Reihe im dritten Rang» besorgt.
Ganz unten im Geschehen findet der gejodelte Tatort statt: Eine fette Japanerin gibt ihren kleinen Buben an die Kammerzofe ab und sich selber den Rest. Sie stösst unter lautem Gedonner des philharmonischen Schlagzeugers das Schweizer Militärmesser in die Eingeweide. UND «BUTTERFLY… BUTTERFLY…» – bricht der amerikanische Heiratsschwindler zusammen.
LEIDER KANN ICH VON FRAU BUTTERFLY KAUM ETWAS SEHEN.
Ein riesiger Wagenhut mit Vogelfedern und einer Tüllschleife so gross wie das Dreispitzareal verwehrt jeden Blick vom hinteren Logenteil. DER HUT GEHÖRT EINER CHINESISCHEN ZWERGIN. WENN SIE DAMIT HERUMGEHT, IST ES, ALS WÜRDE EIN UFO LANDEN.
Und: «…des guate Maderl hätt diesen Hallodri von omerikanischem Suldaten net schnackseln lossen dürfn», schnäuzt sich Fräulein Henriette auf dem Heimweg ins feine Taschentuch.
«WIR WISSENS JA SAT DIESEM DEPPERTEN PRÄSIDENTEN, WOS D AMERIKANER UNTENRUM SO TREIBEN.»
«Was hat sie gesagt?», will Innocent wissen.
«Zu Hause gibts einen Marillen-Schnaps» – stoppe ich jede weitere Diskussion. Und werde mich dann beim österreichischen Google schlau machen, was«schnackseln» wohl auf Deutsch heissen mag…

Dienstag, 24. April 2018