Rösli vom «Adler»

Die alte Frau im Spitalbett schwitzt. «Bin schon da… ich habe nur zwei Beine…!», fantasiert sie jetzt.

An der Türe ist ein silberner Namensstreifen eingeschoben: ROSA KELLER.

Nie hat einer sie Rosa gerufen. Nur «Rösli». Sie war das «Rösli vom Adler». Manchmal wusste sie selber nicht mehr, wie sie sonst hiess.

Die Beizen-Familie im «Adler» war gross und die Hirschis gute Patrons gewesen.

Die Mutter servierte im «Schwanen». Als Rösli vom Welschlandjahr zurückkam, war klar: «Ich gehe auch in den Service!»

Die Mutter hatte gezögert: «Man ist immer auf den Beinen. Alle rufen. Aber wir haben schliesslich nur zwei Beine…»

An einem 1. April hatte sie im «Adler» angefangen. Sie war jung. Fröhlich.

Und wenn einer von der Jassrunde zudringlich wurde, schaltete sich Mutter Hirschi energisch ein: «Lasst mir das Rösli in Ruhe… die ist viel zu schade für euch Jasslümmel… die macht mal eine ganz grosse Partie!»

Machte sie nicht.

Sie servierte Forelle blau. Dann Schnecken im Pfännchen. Und immer wieder Wiener Schnitzel.

DIE WELT KONNTE SICH RASANT VERÄNDERN – DAS WIENER SCHNITZEL ABER BLIEB.

Mit 30 spürte sie die Knöchel. Und kaufte Gesundheitsschuhe, die bis oben geschnürt waren.

«Rösli – wo bleiben die Salzstangen?»

«Ich habe nur zwei Beine…!»

Es kamen die Fondue-Bourguignon-Jahre. Das Riz-Casimir. Und die ersten gefrorenen Scampi-Schwänze.

ABER DAS WIENER SCHNITZEL WAR NOCH IMMER AM BELIEBTESTEN.

Der Dorfpöstler wollte sie in die Ferien nach Mallorca entführen. Und Fabrikant Bitterli offerierte ihr eine Bürostelle.

Aber Rösli konnte mit einem Schreibtisch so wenig anfangen wie mit Ferien auf Mallorca.

Sie blieb bei den neuen Tellergerichten mit Blumen am Rand und Suppen, die plötzlich in kleinen Tässchen serviert wurden.

TROTZ DER NOUVELLE CUISINE – NOCH IMMER NUMMER EINS: DAS WIENER SCHNITZEL!

Röslis Beine schwollen schon mit 45 Jahren auf. Sie kaufte noch höhere Schuhe. Massierte sich in der Zimmerstunde mit einer Kampfersalbe ein. Und wurde vom alten Hirschi gescholten: «Wegen deiner Scheichen stinkt es hier wie in einem Spital…»

ABER WIENER SCHNITZEL WURDEN TROTZDEM BESTELLT.

Als die Hirschis starben, war Rösli 57. Die Beiz wurde von einer Burger-Kette übernommen: Vegi-Burger. Jumbo-Burger. Poulet-Burger.

IMMERHIN – WIENER SCHNITZEL GABS AUCH.

Die Kollegen um Rösli wurden immer jünger. Und deren Servierschürzen immer länger. «Bistrot-Style» nannten sie es.

Rösli lernte auf einer Computerkasse zu tippen. WIENER SCHNITZEL WAR «W-6».

Sie war langsamer als die Youngsters. Die Waden brannten.

Das «Ménage» mit Fondor und Maggifläschlein verschwand vom Tisch. Die Kundschaft rief jetzt ungeduldig nach Ketchup.

«Ich habe nur zwei Beine!»

Rösli wurde gekündigt.

Sie blieb in ihrer Einzimmerwohnung. Lebte von der knappen Sozialrente. Aber es reichte für einmal pro Monat WIENER SCHNITZEL.

Die junge Krankenschwester schaut jetzt auf das Fieberthermometer.

Der Arzt blickt sie fragend an.

«Lange macht sie es nicht mehr…Kommst du in die Kantine?» Es gab Wiener Schnitzel.

Wiener Schnitzel haben das «Rösli vom Adler» überlebt.

Freitag, 2. März 2018