Von der Kinderfasnacht, die es gar nicht gab

Illustration: Rebekka Heeb

MIT FASNACHT WAR NICHTS.

Null.

NIENTE!

Für einmal waren sich die Alten einig: «So etwas tun wir nicht!»

Vielleicht SIE nicht – ICH schon.

«Ich will als Ballerina gehen», verkündete ich der nicht sehr erstaunten Familie. SIE WAR KUMMER MIT DEM KLEINEN GEWOHNT.

Schon mit fünf Jahren hatte der Bub in einem steifen, schwarz gerüschten Petticoat-Unterrock das Quartier aufgemischt. Und vor Frau Schneiderhahns Bäckerladen Wirtinnen-Verse gesungen.

Die Verse kamen von Onkel Alphonse.

Das Kind hatte zwar Mühe, seinen Hirten-Part («Oh sehet nur, was für ein Wunder uns allen geschehen ist») im Krippenspiel auswendig zu lernen.

ABER 35 WIRTINNENVERSE BLIEBEN MÜHELOS IN SEINEM GEISTE KLEBEN.

Der Reim also von Onkel Alphonse – der Unterrock von der Wäscheleine im Hinterhof. Er gehörte Frau Gygax.

UND DAS THEATER HÄTTET IHR JETZT MAL MITBEKOMMEN SOLLEN.

Es jagte die Alte schier aus den filzigen Finken, als sie sich ihr Basler Brot holen wollte. Und den lieblichen Jungen in ihrem Unterkleid vor der Bäckerei Schneiderhahn «Frau Wirtin hatte auch nen Knecht …» sopransicher trällern hörte.

Die Gygax also kreischte wie eine angestochene Sau. Schälte mich aus ihrem steifen Rüschenlappen. Und keifte auf meine Eltern ein: «Dieses Kind ist verdorben. Und zwar bis in die Zehennägel.»

MAG SCHON SEIN. ABER IMMERHIN WAREN LETZTERE ROSIG LACKIERT!

Kurz: Die Familie hatte es nicht einfach.

Und deshalb: «SCHMINK DIR DEINEN NAGELLACK SAMT FASNACHT AB!

FASNACHT IST ETWAS FÜR DEN MOB!»

Das Wort «Mob» bedeutet «unterste Schublade». Und die pseudoschicke Seite meiner Mutter benutzte den Ausdruck sehr oft, um die Verwandtschaft meines lieben Vaters zu charakterisieren.

Entsprechend folgerte der Bub: «ABER WIR SIND DOCH MOB. UND ONKEL ALPHONSE ERST RECHT. IHR SAGT DAS IMMER. ER KOMMT GANZ BESTIMMT MIT MIR AN DIE FASNACHT. SÄUFT SICH DORT VOLL. UND ICH WILL SEINE BALLERINA SEIN.»

Mutter schoss Vater einen Blick zu: «NA BITTE – DEINE SEITE! JETZT SAG ENDLICH AUCH ETWAS!»

Der Alte hüstelte etwas verlegen: «Aber Bubi – Ballerina ist nur etwas für Mädchen.»

«Der Junge spielt ein bisschen ins Verrückte – der hat doch ganz zünftig einen an der Waffel … SOLCHE ENDEN MEISTENS IN DER KLAPSE», hatte die Gygax getobt.

Meine Eltern protestierten aus familiärer Solidarität: «Das ist nur eine sehr frühe Form von pubertärem Ausbruch!»

Aber die Ausrede schwächelte.

Das mit der Ballerina hatte sich so ergeben: Ich durfte mit der Kembserweg-Omi den «Nussknacker» besuchen. Dort drehten sich Schneeflocken um die Eisprinzessin.

Ich: HIN UND WEG!

Auf dem Heimweg löcherte der Enkel seine arme Grossmutter so lange, bis diese versprach, in der Epa zwei Ballen Vorhangtüll einzukaufen. Und dann die Nähmaschine zu trampen.

Als ich am Fasnachtsdienstag in roten Strumpfhosen mit dem Tüll-Tütü darüber Onkel Alphonse aus dem Mittagsschlaf holte, keuchte er als Erstes zu seiner Gattin: «Julchen – ich verspreche dir: Ab sofort höre ich mit der Sauferei auf! Ich halluziniere.»

«Wir gehen ins Café Schiesser an den Kinderfasnachtsball; Bier gibt es dort gratis», flüsterte ich Alphonse zu.

Der war im Nu wieder bei sich. Holte die rote Gumminase, mit der er an Verlobungsfeiern den dummen August gab.

UND BRÜLLTE IN DIE KÜCHE: «ICH FÜHRE NUR RASCH DEN KLEINEN UMS QUARTIER, JULCHEN!»

«Bring noch ein Kilo Puderzucker mit», rief die Tante. Und ärgerte sich, weil schon wieder eines ihrer Fasnachtsküchlein beim Herausfischen aus der Frittierpfanne zerbrochen war.

Onkel Alphonse und ich also: AB INS GESCHEHEN!

Nun gab es jedoch in den frühen 50er-Jahren am Fasnachtsdienstag noch keine Kinderfasnacht im heutigen Sinne. Keine von Menschen verstopften Plätze. Keine Familien-Ziigli und abstrakte Zyschtigs-Ziigli.

NEIN. DER FASNACHTSDIENSTAG WAR EINFACH SO ETWAS WIE EIN STINKNORMALER ANDERER BASLER TAG AUCH!

In diesem Düster wirkte ein Bub im Ballett-Tütü wie ein rosa Elefant auf dem Matterhorn.

DIE LEUTE TIPPTEN SICH AN DIE STIRN.

Und: «HIMMEL, SIND DAS TRAN-EIER. Los. Wir singen den Vers mit der Wirtin und dem Knecht!» – nervte sich Onkel Alphonse. Er stülpte die rote Nase über. So gaben wir ein bestechendes Duett, bis die Polizei uns abservierte.

AUF DEM POSTEN HOCKTE EIN PARTEIFREUND MEINES VATERS – SO EINE ROTE SOCKE AUS DEM GEWERKSCHAFTSKLÜNGEL!

«Bist du nicht der Kleine vom Hans …?»

«Frau Wirtin hatte auch nen Hans …», wusste ich hier einen Vers.

Der Polizist stoppte mich abrupt: «Weiss dein Vater, was du da machst?»

«Klar!», log ich das Blaue vom Himmel runter.

«UND WER IST DIESER SELTSAME AUGUST HIER?»

Ich strahlte meinen Lieblingsonkel an: «Das ist unser Alphonse – allerletzter Mob!»

Man kann über Basel und die Polizei nun sagen, was man will, aber die reagierten wunderbar. Sie liessen für mich Mohrenköpfe auffahren, die man damals noch so nennen durfte.

Und für Onkel Alphonse schleppten sie vom «Storchen» eine Kiste Bier an.

Dann trommelten sie die ganze Belegschaft zusammen. Und wir durften vor uniformiertem Publikum sämtliche Wirtinnen-Verse drei Mal singen. Den mit dem Knecht fünf Mal!

«Und was ist das für ein lustiges Kostüm?», fragte der Stubenchef.

«Ich bin eine Ballerina», erklärte ich hoheitsvoll. Und bekam daraufhin nochmals einen Schub von Schokoköpfen (um es jetzt politisch korrekt zu sagen).

Da Onkel Alphonse so ziemlich die halbe Harasse «Anker dunkel» intus hatte, wurde es eine flattrige Heimkehr.

Jedenfalls tobte Tante Julie zu Hause wie ein Wolkenbruch. UND DIESES MAL NICHT WEIL DIE FASNACHTSKIECHLI ZERBROCHEN WAREN.

Sondern weil ihr Gatte («Du bist doch wirklich der allerletzte Depp!») den Staubzucker vergessen hatte.

Ich wollte mit dieser Geschichte eigentlich nur sagen, dass das Kulturerbe am Fasnachtsdienstag vor 50 Jahren noch ohne all diesen Zucker war!

Dienstag, 13. Februar 2018