Von Mutters Grättifrauen und der Back-Euphorie

Illustration: Rebekka Heeb

«ICH BACKE GRÄTTIMÄNNER!»

Innocent ist Feuer und Flamme. Er reitet keine Paragrafen mehr. Und sattelt seither den Haushalt um.

Unsere langjährige Perle Annick droht bereits mit Kündigung («ENTWEDER DU SCHAFFST IHN MIR AUS DEM WEG – ODER ICH MACHE MICH AUS DEM STAUB!»).

Und der Hausfrieden hängt bei uns zur Vortannenzeit oberschief, seit er mir täglich die Geschirrspülmaschine umräumt. Und Seminarien über das Thema «Suppenteller hinten, Pfannen vorne» hält. Ich kapiere jetzt, weshalb immer mehr Ehen n a c h 50 Jahren geschieden werden.

DAS SCHLIMMSTE: Er hat das Kochen entdeckt. Und die Küche für sich gepachtet. CHAOS, CHAOS, CHAOS!

Ich sage nur so viel: ER EXPERIMENTIERT SELBST MIT SPIEGELEIERN. UND VERKAUFT SIE ALS «RUSSISCHES FEUERWERK». Die Dotter sind geplatzt. Dafür schwimmt auf dem angebrannten Eigelb nun ein Pfund gehackte Chilischoten. DA BEKOMMEN NICHT NUR ALLERGIKER KEINE LUFT MEHR. DA HEULT JEDER GENIESSER!

Und nun also: Grättimänner! «Ich nehme meine Ferien», sagt Annick. Und lässt mich im grossen Beben alleine stehen. Zuerst versuche ich es auf die gütige Art. «Es ist doch einfacher, wenn wir bei Krebs so einen Grättimann bestellen und…»

Sein Blick friert den Grättimann von Krebs sofort ein. Eiskalt werde ich mit der heissen Tatsache konfrontiert: «ICH BACKE 50 GRÄTTIMÄNNER! BASTA. UND DIE VERTEILEN WIR DANN AM KLAUSENTAG UNSERN FREUNDEN. EINE ADVENTSGABE – DAS WIRD JEDEN RIESIG FREUEN.»

Mich freuts nicht! Denn Annick ist weg. Und wer putzt dann den verrussten Herd oder kratzt die Teigresten vom Fenster?

Ich habe ohnedies eh ein eher gespaltenes Verhältnis zum Klausentag mit seinen Hagelzucker-Männern. Als Kind durfte ich bei meiner Tante Julie helfen, solche Männer zu formen. Und aufs Backblech zu legen. Die Tante war eine Hobby-Bäckerin. Punkto Kochen war sie eine Null. Aber beim Backen war sie von einer unglaublichen Unruhe getrieben. Irgendetwas in ihrem Innern ging so auf wie der Teig bei drei Pfund Hefe.

UND DIESE EXPLODIERENDE UNRUHE LIESS SIE MIT TORTEN, ZÖPFEN, WEIHNACHTSGUTZI UND CHRISTSTOLLEN AUF IHRE UMGEBUNG LOS. Oder anders: MIT IHREM RINDERBRATEN KONNTE MAN MORDEN. ABER IM BACKEN WAR SIE GROSS.

Julie bebackte alles und jeden.

Vorweihnachtszeit war am schlimmsten – mein Onkel Alphonse floh vor den riesigen Schüsseln mit Eiern, Zucker, Rosinen. Von Weissmehl überpudert zog er in eine Familienpension. Er kehrte erst zum Heiligen Abend wieder nach Hause zurück, wo Julie mit ihren Enkeln und Grossneffen unter dem Baum bereits «Backe,backe Kuchen» sang.

Bei Tante Julie durfte ich also helfen, die Grättimänner zu formen und sie auszugarnieren. ICH WEISS NICHT, WAS ÜBER MICH KAM – JEDENFALLS FAND ICH DIE MÄNNER IN IHREM NORMALEN «GRÄTTI-OUTFIT» EHER SPIESSIG.

Ich ging damals noch in den Kindergarten – unschuldig wie frisch gefallener Schnee. DENNOCH HÄNGTE ICH JEDEM DER TEIGMÄNNER EIN ETWAS ÜBERDIMENSIONIERTES GESCHLECHTSTEIL UNTER DEN BAUCH.

Also DAS Theater hättet ihr erleben sollen! Tante Julie rief meine liebe Mutter an. Die jagte sofort herbei. Und dann gabs Vorwürfe. Jammern. Tränen. «WOHER HAST DU DAS?!» Wie sollte ich je ein normaler Bub werden, wenn nicht einmal meine Mutter wusste, woher es kam?

Jedenfalls: Meine Dekorationen wurden wieder weggekratzt, und ich durfte den Teig zu einem Häschen formen. «NA, D E R WIRD DIR MAL FREUDE BEREITEN, LOTTI», unkte die Schwägerin.

«Das Übel kommt von eurer Seite, Julie», konterte Mutter giftig. Dann nahm sie mich am Arm. Und zog mich von den Teigschüsseln weg. Natürlich schrie ich Zetermordio. Mir hatte die Sache mit den Männer-Anhängseln nämlich Spass gemacht.

ABER SO WAR DAS DANN EIN LEBEN LANG – IMMER HABEN SICH NUR DIE ANDERN DARÜBER AUFGEREGT.

«Du darfst mir daheim beim Backen der Grättifrauen helfen», spuckte die Mama auf ihr Taschentuch. Und rieb mir energisch das verheulte Gesicht rot.

Als engagierte Feministin war sie schon in den 50er-Jahren überzeugt, dass die Grättimänner keiner ernsthaften Frauenquote standhalten könnten. ALSO BACKTE SIE FRAUEN!

Die Teigweiblein sahen auf dem Blech mit ihren Heferöckchen niedlich aus. Als sie dann aber aus dem Ofen gezogen wurden, hatte die Hefe sie so aufgetrieben, dass sie als «schwanger im achten Monat» durchgegangen wären.

MEIN VATER, DIESER UNGEHOBELTE ROHLING DER LINKEN, SCHLUG SICH BRÜLLEND VOR LACHEN AUF DIE SCHENKEL: «H I E R IST FÜR EINMAL DIE FRAUENQUOTE SCHÖN AUFGEGANGEN, LOTTI!» Dann sagten sie einander Wüstes.

Und jetzt also Innocent. MIT 50 GRÄTTIMÄNNERN! UND ALLE MIT ROSINEN IM KOPF! Ist ja typisch.

Für die Zeugung der Herren ist Frau Bossi die geeignete Partnerin. Innocent hat im Bücherantiquariat sämtliche einschlägigen Betty-Bossi-Kochbücher zusammengekauft. Seither gibts bei uns alle diese Desserts und Hühnerkeulen, die ich auch an andern Einladungen stets vorgesetzt bekomme. DENN KOCHTECHNISCH IST DIE BOSSI DER BOSS IN HELVETIEN!

Natürlich mussten ein paar Zutaten zur teigigen Männer-Geburt angeschafft werden: 23 Backbleche, 5 Mehlsiebe, 12 Schüsseln von Alessi.

So betrachtet hätten wir unsern Freunden auch eine Lindt-Aktie schenken können.

ÄHNLICHE EINWÄNDE WURDEN SOFORT ENERGISCH UNTER DEN TEIG GEKNETET: «Du denkst immer nur in Dollarnoten – DAS HIER IST GEFÜHL. HERZ. UND ZWAR HAUSGEBACKEN.»

War es dann auch.

Doch leider hatte Innocent die Hefe vergessen. Und dies, obwohl Frau Bossi ein Ausrufezeichen an dieser Stelle der Zutaten eingesetzt hat.

Die Männer kamen schön gebräunt, doch flach wie Flundern aus dem Ofen. Sie konnten mühelos per Briefpost verschickt werden.

NÄCHSTE WOCHE SIND ANISBROTE ANGESAGT! Ich suche mir heute schon eine kleine Familienpension.

Dienstag, 5. Dezember 2017