Cümülüs

Annick schaute von der Kasse hoch: «Cümülüs?»

Sie war Elsässerin. Gab sich französisch. Aber weil sie bei der Schweizer Kundschaft auf Elsässisch Super-Sympathiepunkte sammeln konnte, «babbelte» sie bei der Arbeit gerne Dialekt.

«Bongschuur» – automatisch liess sie verpackte Kartoffeln über den Scanner schweben.

Seit acht Uhr hockte sie an der Kasse: «BONGSCHUUR... CÜMÜLÜS?... MEEERCI!» Es war Samstag. Und das Center schon früh gerammelt voll. Die Leute bauten Grillwürste, Waschmittel-Kisten und Katzenfutterdosen vor ihr auf.

«Cümülüs?» Seit zehn Jahren machte sie diesen Job. Der Lohn war niedrig. Aber besser als der Lohn des Bürgermeisters in ihrem Elsässer Ort.

Annick konnte sich nicht beklagen. Die Leute hier in der Grenzstadt waren nett zu ihr. Aber das hiess nichts. Sie waren zu allen nett – Political Correctness. Auch zu «Kuukhu» aus Ghana, der die Schäfte auffüllte. Und zu «Frau Helfer», die so dick wie drei Nilpferde war. Und sich jedes Mal mit Ächzen und zwischen Kasse und Förderband klemmte.

Frau Helfer war die einzige Schweizerin im Riesencenter. Das gab ihr einen gewissen Status. Und machte sie zur Filialleiterin. Trotzdem wurde sie von der übrigen Mannschaft kameradschaftlich geduzt – etwa: «Frau Helfer, kannst du mir rasch die Aktionsliste reichen?»

«Bongschuur!»

Vor Annick stand ein bauchiger Mann. Er stiess drei Wägen voran – wie eine Lokomotive die Anhänger.

Die Wägen waren mit Weinkisten gefüllt. ALLES SCHWEINETEURES GESÖFF – wie Annick beim Einscannen merkte. Zum Schluss blätterte der Dicke eine Tausendernote hin.

«Cümülüs?» – Antwort: ein Grunzen.

Annick büschelte sorgfältig den Schein ins Kassenfach. Und überlegte, dass der ihr den Last-Minute-Trip nach Ibiza ermöglichen könnte. Seit Jahren träumte sie davon, einmal am Strand alles von sich zu schwimmen. Und auf der Sonnenseite des Lebens zu baden.

«MERCI!» – das kam jetzt ziemlich abwesend.

Was – wenn sie mit dem Pulver abhauen würde? Den Klotz einfach einstecken («Frau Helfer, kannst du rasch übernehmen – ich habe wieder mal meine Tage...») – UND DANN AB ZUM FLUGHAFEN. MIRNICHTSDIRNICHTS WEG!

Vor dem Gefängnis hätte sie Sonnentage. UND DIE ABSOLUTE FREIHEIT. EINMAL NUR!

Die Zelle danach konnte auch nicht viel schlimmer sein, als der Stuhl hier zwischen Klapptürchen und Kasse.

«ICH SUCHE DEN APFELESSIG AUS DEM AKTIONS-INSERAT!» – bellt eine scharfe Frauenstimme Annick in das Leben zurück.

«Extra-Tisch», murmelt sie. Und dann: «Cümülüs?»

Vor ihrem Spind massiert sich Annick nun die Beine. Dann zieht sie ihre Plastiktasche heraus und: «Annick... Annick!»

Sie schaut erstaunt auf.

«Frau Helfer... hast du ein Problem?»

Die Filialleiterin kommt auf sie zugewatschelt. Und flattert mit einem Couvert.

Dann umarmt sie Annick: «Du bist heute zehn Jahre bei uns. Und ich bin froh, dass ich dich habe... hier, ein Gruss von der Geschäftsleitung!»

Sie drückt ihr das Couvert in die Hand. Drin stecken 200 Franken. Und ein vorgedruckter Dankes-Brief des Unternehmens.

Irgendwie geht Annick glücklich zu ihrem klapprigen Renault: 200 Franken. Immerhin.

ABER DIE UMARMUNG.

UND FRAU HELFERS «ich bin froh, dass ich dich habe...» – das war fast schon wie Sonne auf Ibiza.

Montag, 7. August 2017