Von Lara und Lara – mit und ohne Materialprobleme

Illustration: Rebekka Heeb

«Lara ist dran. SIE HAT BESTZEIT» – Innocent hypert wieder. Immer wenn Lara dran ist, bekommt er das grosse Sausen. Er krallt sich in den Fernsehsessel. Und brüllt die Vasen vom Buffet.

Unten fehlen Lara dann allerdings ein paar Hundertstelsekunden.

DIE WELT IST SCHLECHT. UND INNOCENT JETZT MIES DRAUF: «Das sind doch alles Dumpfbacken. Die haben das arme Mädchen verwachst. Technisch war sie die Beste…»

GEHT MIR ALLES SO WAS VON KALT AM ARSCH VORBEI!

Wohlweislich sage ich nichts. Ich habe 48 harte Lernjahre hinter mir. Deshalb: «Jaja, die arme Lara. Gut ist gut. Aber manches noch besser als Gut…»

Ich freue mich über den Wortwitz.

INNOCENT FINDET ES NICHT LUSTIG: «Die andern können ihr nicht das Wasser reichen, du Hirni! SIE IST EINFACH DER WAHN. SO SCHÖN. UND SO SCHNELL…»

«Jaja» sage ich.

Wie gesagt: 48 Jahre. Und gelernt ist gelernt.

Meine Gedanken wandern.

Sie sind bei der andern Lara – der alten Frau in Rom.

Nun gut, meine Römer Lara ist kaum älter als ich. Aber auch das ist alt. Sehr alt.

Und ich muss jetzt an sie denken. Denn in Rom ist es eisig kalt. Und die Wohnung von Lara nicht heizbar. Sie hat nur einen Schlafsack, den ich ihr vor zwei Jahren gekauft habe.

Lara lernte ich vor 30 Jahren beim Wohnungskauf kennen. Ich hatte den Vertrag unterschrieben. War überglücklich. Und wollte dieses Glück mit andern teilen.

Also lud ich alles rings um mich herum ein: den Notar, Franco, den Portier, Mimma, meine künftige Putzerin, und Max, einen Römer Freund, der mir geeint mit Innocent bis zum letzten Moment von der Unterschrift abriet: «DAS IST DOCH EIN WAHNSINN. FÜR DAS VIELE GELD KÖNNTEST DU TAUSENDMAL IM FÜNFSTERNEHOTEL ÜBERNACHTEN! DORT BRÄUCHTEST DU KEINE PUTZFRAU!»

Ich aber war einfach nur glücklich: eine eigene Bude im Herzen von Rom. Bodeneben. Was Italiener allerdings mit einem Nasenrümpfen quittieren – man wohnt in Rom nicht Parterre!

Ich taumelte vor Freude – also vom düsteren Notariatsbüro in die grelle Sonne hinaus. Die kleine Gruppe wackelte hinter mir her.

UND DANN KAM LARA.

Sie sah gut aus. Trug eine Brille. Überdies einen eleganten Umhang, den man nicht so genau definieren konnte: Stola oder Decke, Mantel oder Wickelrock.

Lara streckte mir die Hand entgegen: «AUGURI!»

Wenn du eine Wohnung frisch gekauft hast und diese Wohnung liegt zwar Parterre, hat aber immerhin ein Scheisshaus, das funktioniert, und eine Steckdose mit echtem Strom – also bei so viel Highlight-­Gefühl nimmst du jeden Glückwunsch strahlend entgegen: «Danke. Grazie. Kommen Sie mit. Und stossen Sie auf die Wohnung an!»

Ich sah, wie Franco die Augen zum Himmel drehte. Und der Notar zu seinem Portemonnaie griff, ob es noch da ist. Innocent zischte ebenfalls ziemlich ungnädig: «Der Kauf war teuer genug. Du kannst doch jetzt nicht einfach wildfremde Menschen einladen…»

«Sie hat mir Glück gewünscht – Auguri!», reagiere ich leicht gereizt. «Von euch höre ich nur ‹wenn und aber›…»

Wir zogen in die nächste Bar. Liessen den ­Korken knallen (weil es in Italien zum guten Ton gehört, die Korken knallen und nicht einfach blubben zu lassen). Und die Frau im Umhang erzählte mir, dass sie Lara heisse und lange Zeit am Genfersee gelebt habe. Und mit einem Schweizer Indus­trieellen verheiratet gewesen sei.

Sie lächelte nun in ihr Glas: «Die Schweiz war eine gute Zeit. Aber als junges Mädchen ist man dumm. Und merkt nicht, wie perfekt es einem geht. Man will Neues. Anderes. Man ist im Fluss…»

Lara hat ihren Mann für einen Liebhaber verlassen: «Er war ein Sizilianer. Heiss wie die Hölle. Also kam ich wieder in mein Heimatland zurück. Ich komme aus Bergamo…»

Natürlich war dann auch mit dem Sizilianer nichts. Und das Schicksal drehte auf die Abwärtskurve.

«Wo wohnen Sie denn, Signora Lara…?»

Das Gespräch verstummte abrupt. Lara zuckte mit der Schulter: «Mal hier, mal dort – aber meistens bei der Via del Piede…»

Franco hat mir später spöttisch erklärt: «Bei der Via del Piede lässt man sie in einem Haus­eingang pennen. Aber nur, wenn morgens kein Markt ist…»

Mit der Zeit wurde Lara eine Freundin.

Immer wenn ich nach Rom komme, suche ich sie auf. Bringe ihr Decken. Bücher (sie liest viel und gerne), Vitaminpillen.

Lara ist wie die alte Stadt. Stets bröckelt wieder etwas ab – aber auch heute noch zieht sie in ihrem alten Umhang (den sie nie weggeben wollte) durch unser Quartier. Und wartet darauf, dass es endlich wärmer wird.

Sie könnte die Nacht in einem Heim für Obdachlose verbringen. Aber: «Madonna! – So weit sind wir noch nicht!»

Wenn ich wieder Notizen von erfrorenen Obdachlosen lese, habe ich Angst. Rufe Franco an, er soll mal schauen, was Lara macht. Und er soll sie in meine Wohnung lassen.

Er ruft zurück: «Sie will nicht eingesperrt sein… sie ist eine Katze… und hat ihren eigenen Kopf!»

Seit ein paar Wochen ist Lara krank. Sie will nicht in ein Spital. «Sie ist stur wie ein Esel», hat Franco am Telefon gepoltert. «Wir haben hier null Grad. Und sie liegt mit Fieber im Hauseingang!»

«Ich hatte Supermaterial…», sagt Lara Gut laut im Interview.

Sie bleibt Dritte. Mit nur ein paar Hundertstelsekunden hinter der Siegerin.

«Hast du das gehört?!», brüllt Innocent. «Lara nimmt sogar ihre Serviceleute in Schutz – so ein anständiges Mädchen!»

«Jaja» sage ich.

Und denke an die andere Lara, die grössere Materialsorgen hat… und die ganz leise vor sich hinstirbt.

Dienstag, 28. Februar 2017