Stiefmütter

Sie mochte ihre Stiefmutter nicht.

ABER WER MOCHTE SCHON STIEFMÜTTER!

Lena wurde bereits als kleines Mädchen ­eingetrichtert, dass Zweitfrauen Kinder im Wald ­aussetzen.

Oder diese mit fies präparierten Äpfeln aus dem Weg räumen.

(Oder die Asche aus dem Kamin fegen lassen.)

KENNT MAN JA.

Lenchens Grossmutter, die fette Martha, war gespickt mit solchen Gräueln der Grimm-Brüder. Durch die dunkle Brille der Poeten sah die Zukunft für Kinder einer Zweitmama ziemlich beschissen aus.

Grimmig-grimmig, eben.

Überhaupt hätte Lena am liebsten Reissaus genommen, wenn Oma sie packte: «So Lenchen. Nun wollen wir das wunderbare Märchenbuch der Grimm-Brüder durchblättern …»

Lenchen erfuhr so schon eine lange Zeit vor den ersten Fernsehkrimis vom Brutalen dieser Welt: Kinder entsorgten eine Frau per Rückenstoss im Holzofen. Und nur weil die arme Alte den Kleinen zu viel Zucker um den Mund gestrichen hatte.

Dann war da die Appel-Anny, welche im Spiegel immer die Schönste sein wollte.

Aber weshalb sollte Schneewittchen NICHT in den roten Apfel beissen? Natürlich war das Resultat ein ätzend langes Durchpennen. Dazu sieben kläglich jammernde Zwerge. ABER IMMERHIN KAM ZUM SCHLUSS DER PRINZENKUSS!

Viel schlimmer fand Lenchen die ehrgeizige ­Mutter bei Cinderella. Das Rabenaas hatte ihren Töchtern doch tatsächlich Zehen und Fersen ­abgehackt, damit die Mädels in den Schuh ­passten. DA STAND ASCHENPUTTEL GERADEZU AUF DER SONNENSEITE.

Wibbidiwabbidibuuu – schon fährt die Droschke vor. WIBBIDIWABBIDIBUU – da ist auch der Prinz mit dem passenden Glaspumps im Anmarsch.

JA HIMMEL – für so viel Glanz und Gloria konnte man schon mal das Cheminee fegen.

«Stiefmütter sind alles Hexenbesen!», so endete die dicke Marthe jeweils den Märchen-Tag. Sie hatte vor drei Jahren – Lenchen war eben zwei Jahre alt – die eigene Tochter begraben. Und fürchtete nun, ihr Schwiegersohn würde einen Ersatz ­anschleppen: «Dein Vater ist herzensgut. Aber ein Trottel. Und er wird eines Tages ein Weib ­heimschleppen, nur damit er jemanden hat, der ihm die Unterhosen rauslegt …»

Der Vater schleppte Elke an. Sie war fies. Und falsch.

Lenchen spürte, dass sie zu Hause unerwünscht war. Und wenn das kleine Mädchen dem fiesen Luder mit «verrecke, du dreckige Sau!» kam, war die so gemein und verpetzte sie beim Vater.

Der reagierte ratlos.

Er flüchtete sich in sein Chemielabor. Und ­experimentierte mit Mäusen.

Manchmal sah Lenchen ihm dabei zu. Am meisten interessierte das Töchterchen die Flasche mit den Totenköpfen drauf.

«HOCHPROZENTIGES GIFT», lächelte der Vater, Er war stolz auf den Wissensdurst der Kleinen.

Die fiese Elke legte derweil ihrem Alten die ­Unterhose raus. Und Hörner aufs Haupt. Sie genoss das Leben. Chattete im Internet.

Und verschwand jeden zweiten Tag zu einem Blind-Date.

Wenn sie zurückkam, war sie meist ­sternhagelvoll.

Elke brüllte nach Whisky. Und liess sich von der Stieftochter bedienen.

Eines Tages kippte die fiese Elke nach dem dritten Schluck Gordon’s um.

TOTE MAUS!

Der Vater war geschockt – Lenchen weniger. Die Kleine zupfte der Leiche das Glas aus der Hand. Gab es in die Spülmaschine: ab mit Waschgang 3.

Der Arzt stellte kopfschüttelnd («tja, tja, der ­Alkohol!») den Totenschein aus – und Lenchen die Giftflasche wieder an ihren Ort zurück.

ICH MEINE: DAS WÄRE DOCH MAL WAS FÜR DIE BRÜDER GRIMM GEWESEN!

Montag, 31. Oktober 2016