Von einem Trip nach Sibirien

Illustration: Rebekka Heeb

Es war Ende der 70er-Jahre, als Innocent die Krise baute.Seine Eltern lagen ihm täglich in den Ohren: «HEIRATE ENDLICH!» Dabei hatten sie NICHT an MICH gedacht.

Das Geschlecht der Blechseufzer ist eines der ältesten der Schweiz. Und das zweit­älteste in der Stadt. Nur das­jenige meiner Grossmutter war älter. Meyer. Mit Ypsilon. Das nervte die Blechseufzer.

SO ETWAS WIE DIE BLECHSEUFZER MUSSTE ALSO WEITERGEHEN. FERTIG. PUNKT. UND KEINESFALLS SCHLUSSPUNKT.

Eine Leihmutter war kein Thema. Und überhaupt: «Das haben andere doch auch geschafft!»

Innocent wankte. Wurde schweigsam. Blätterte alle seine Freundinnen durch. Und schaute mich mit seinen tränenden Spaniel-Augen an. «Ich weiss nicht… ich weiss nicht!»

Ich musste ihm Zeit geben. LOSLASSEN – wie sie es heute in den Selbsthilfegruppen durch die Kerze sagen. Da kamen mir die Kommunisten gerade recht. Alle meine linken Zeitungsfreunde bekamen das Wonnesausen, wenn sie mir von der Sowjetunion vorschwärmten. Auch meine Freundin Bea. Sie paukte seit Jahren Russisch: «Und jetzt probieren wir das mal live aus. Stell dir vor: all dieser russische Kaviar … der Krimsekt … die Zobelmäntel …» DAS MIT DEN ZOBELMÄNTELN WAR MIES. SIE WUSSTE GENAU: JETZT HÄNGT ER AN DER ANGEL!

Später, als ich mich in Sibirien wegen eines solchen Umhangs preislich schlaumachte – IMMERHIN: IVAN REBROFF WARF SICH AUCH IN EINEN –, landete ich hart auf dem Boden der sowjetischen Wirklichkeit. Für den Preis hätte man in Aesch eine ganze Wohnsiedlung kaufen können (so man so etwas in Aesch wollte).

Mein Vater brachte uns zum Flughafen. Dann sprach er ein ernstes Wort. «Ich bin immer für dich da. Aber bau keinen Mist. Halte dich mit all deinen Männerabenteuern zurück – hinter dem Eisernen Vorhang kann ich nichts ausrichten.» Konnte er auch vor dem Eisernen Vorhang nicht. Wie die meisten Politiker überschätzte er sich. Aber es war gut gemeint. Und das zählte.

Zum Abschied drückte er mir 20 Kugelschreiber in die Finger: «Wenn du ein Taxi brauchst, musst du damit winken … die sind ganz heiss darauf!» Als ich später in Moskau den Kugelschreiber schwenkte, hielt ein Taxi an: «Kann ich Ihnen mit meinem aushelfen…?»

Wir hatten zehn Wochen geplant. Und dies in diesen Monaten, wo das Schnauzhaar zur Eisbürste fror. Neujahr feierten wir im «Winterzirkus». Hofer, unser Reiseorganisator, hatte Beziehungen spielen lassen. Und wir waren Ehrengäste.

Über der Balustrade unserer Loge hing die Schweizer Fahne. Unten jonglierte ein schwinger­ähnlicher Hüne mit 20 Kilo schweren Kugeln. Als ich seine Kugeln sah, vibrierte ich. Bea schaute argwöhnisch: «Reiss dich am Riemen – der ist gedopt. Und du weisst ja, dass mit gedopten Sportlern nichts los ist…»

Es gab eine Neujahrsfeier in den Garderoben. Alle sowjetischen Künstler hatten dort die Spezialitäten aus ihrer Heimat aufgetischt. Meistens waren es gefüllte Eier. Süssliche Gurken. Oder Preiselbeeren im Glas.

Plötzlich kratzte ein Mikrofon. Eine Männerstimme legte pathetisch los. Ich verstand nur «Shvetsariya». «Du musst ihnen danken. Er hat uns als Kulturabgeordnete aus der Schweiz aufpoliert!», flüsterte Bea. Ich redete Nettes – so etwa: dass Kultur, Kunst und Liebe alle Grenzen überwinden würden. – Na ja, diesen Schmu, den ich aus «Es muss nicht immer Kaviar sein» hatte. Bea übersetzte feurig. Ich vermute stark, dass sie sich nicht textnah an meine Worte hielt. Jedenfalls umarmten uns alle. Auch der Kugelmann. Ich zog mit ihm ab. Er war eine schlappe Enttäuschung. Und: «Ich habs ja gesagt», sagte Bea.

Wir flogen nach Irkutsk. Geplant war, Sibirien mit der Eisenbahn abzuspulen. Im Flugzeug sass ein gut aussehender Militärmann. Er hatte ziemlich viele goldene Streifen. In der dritten Flugstunde schon hockte ich beim Gold. In der fünften versprach er mir den Baikalsee. Und damit Bea ohne zu murren in Irkutsk zurückblieb, beschwichtigte er sie mit einer Schlittenfahrt durch die Taiga.

Das mit dem Schlitten war nett. Er wurde von zwei dampfenden Pferden gezogen. Die Temperatur lag etwa bei 30 Grad unter null. Alle halbe Stunde hielt das Gefährt an. Und wir wurden mit heissen, geschmacklosen Pfannküchlein aufgepeppt. Die mussten dann mit Wodka runtergespült werden. Am Schluss war uns warm. Aber wir sahen acht Pferde.

Am Baikalsee blieben Feodor und ich zwei Tage in seiner Datscha. Sie war aus Holz. Und hatte die Farbe eines verwaschenen Veilchens.Eine Alte schlurbte durch die drei Kammern. Sie warf durch ihre abgesoffenen Augen immer wieder missbilligende Blicke auf mich («Das ist Alesya», sagte Feodor, «sie ist fürs Einheizen da»). Und dann wurde auch ohne sie richtig eingeheizt. Als uns Feodor drei Tage später zum trans­sibirischen Zug brachte, wollte ich eine Trophäe: «Schenk mir deinen ­Militärgürtel mit dem Sichelverschluss!» Feodor brachte tausend Ausflüchte. Ich aber hatte meinen durchdringenden Seekuhblick – und am Schluss den Gürtel.

Er begleitete uns dann in dieses Abteil, in dem ein Samowar mit heissem Wasser summte. Bea wurde vom uniformierten Feodor umarmt. Ich nicht. Vermutlich wollte die Sowjetunion ebenfalls nicht, dass ich bei ihm den Schlusspunkt setzte.

Als wir nach zwei Monaten in Moskau ausreisten, wurde mir der Gürtel direkt von der Hose abgenommen. Auf die Frage «Woher?» zuckte ich die Schultern: «Gefunden.»

Einige Jahre später empörte sich die ganze Schweiz über den Fichenskandal. Meine Alt-68er-Kollegen schauten düster in den Tag: «Ich muss mir meine Fiche kommen lassen.» SIE HATTEN ALLE KEINE. Ich aber wedelte triumphierend mit meinem Fackel herum. Man konnte lesen: «…er traf Hauptmann F. W. am Baikalsee. Austausch von Ledergürtel und mehr!»

Der Familie Blechseufzer habe ich übrigens eine Ansichtskarte ins Altenheim geschickt. «Ihr habt mich stets nach Sibiren verwünscht. Jetzt bin ich da…» Es half ihnen etwas darüber hinweg, dass Innocent sich für den Schlusspunkt entschieden hatte.

Dienstag, 11. Oktober 2016