Von der nackten Milly und Fleischschau in Mexiko

Illustration: Rebekka Heeb

Tante Milly liebte es nackt. Die Familie erzählte, dass sie sich schon als frischgebackenes Baby blau gebrüllt habe, als man ihr das rosigrote Wollhöschen überzog. Windeln entledigte sie sich mit hysterischem Gestrampel. Und später, auf dem Weg in den Kindergarten, habe sie schon vor der Haustüre das Höschen runtergezogen. Ohne einen Faden an sich sei sie bei Frau Zimmerli aufgekreuzt. Und wollte nur mit nackten Badepuppen spielen.

Es war eine Marotte von Milly.

Aber für die Familie, der man den rosigen Balg in einer Decke gehüllt wie ein Spanferkel vor dem Grill heimbrachte, war es: DAS NACKTE GRAUEN!

Natürlich hat jeder sein Kind lieb, so wie es halt eben so rauskommt. Aber hier wurde die Liebe auf eine grosse Probe gestellt.

Sie liessen schon früh Psychologen und Fachleute für seelische Verirrungen an Milly ran. Es kostete eine heitere Stange Geld, Millys Kleiderphobie etwas aufzulockern. Immerhin war sie dann so weit, dass sie das weisse Kommunions­röckchen erst nach dem Segen wegschmiss. Aber natürlich waren Paten wie Grosseltern verärgert. Alle hatten sich für den grossen Moment in Unkosten gestürzt und frisch von der Stange eingekleidet. DOCH DIE KLEINE STAND NACKT DA! Und das neben dem üppigen Gabentisch. Nein – das war nicht die grosse Freude und Feier.

Natürlich wollte keine Schule Milly aufnehmen. Sie bekam Privatunterricht. Und wenn sie dann einmal jährlich die Prüfungen vor einer dieser zugeschnürten, staatlichen Schultanten ablegen sollte, legte sie die Kleider gleich mit ab.

Natürlich fiel sie so jedes Mal durch.

Dabei hatte sie Pythagoras wie auch das griechische Alphabet intus. Aber das interessierte die Prüfungsexpertin nicht. Sie bellte laut: «Zieh sofort deine Klamotten an! Was ist auch in dich gefahren…»

«Noch gar nichts, liebe Frau Professor», kicherte Milly anzüglich. Und die Schultante kippte sich einen Liter Baldrian rein.

Das Gezeter der Familie wich einem Gejammer. Und Gejaule. «Wir stecken dich ins Kloster, Milly!», drohten alle. Milly grinste nur. Sie war ja nicht dumm. Nur nackt. Und: «Welches Kloster nimmt schon eine unverhüllte Novizin», blaffte sie. Wieder grosses Toben: «VORLAUT IST SIE AUCH NOCH!»

Nur Onkel Alphonse, der Vetter von Milly, nahms gelassen und klopfte seiner Cousine auf den Allerwertesten: «Mit diesen saftigen Schinken kommst du ein Leben lang durch, Milly – ich weiss jenseits der Grenze ein gutes Puff…»

«ALPHONSE!»

Es war eine geschlagene Familie.

Als Kind wurde ich von Milly ferngehalten. Mit seichten Ausflüchten wie «Deine Tante ist etwas sonderbar…» oder «…man muss mit ihr Mitleid haben, Bub» wurde ich hingehalten. Erst Onkel Alphonse gab mir dann Klartext: «SIE HAT DIESE KLEIDERPHOBIE. UND FÜHLT SICH NUR NACKT WOHL. WAS IST JETZT SCHON DABEI?!»

Fand ich auch. Und alles sehr interessant.

Ich besuchte Milly heimlich nach der Schule. Sie lebte in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Und sie sperrte mir strahlend wie splitternackt die Tür auf. «Komm rein. Ich habe dich schon lange erwartet – wie Alphonse mir sagt, bist du ja auch nicht das, was man in unserer Familie eine gerade Nummer nennt!»

Sie zeigte mir stolz ihr Etablissement: «Zwei Zimmer reichen vollkommen … ich brauche keine Kleiderkästen. Und auch kein umständliches Bügelbrett…»

Immerhin – in einem der Kästen hing ein ­langer Rock. Es war Millys Fasnachtskostüm. Und weil ihr der Brauch mit dem Gebot «Zugedeckt bis an die Halsgurgel» heilig war, ging sie nur während dieser drei Tage bekleidet auf die Strasse.

Es war dann auch an einer Fasnacht, als Tante Milly diesen texanischen Wurstfabrikanten ­kennenlernte. Sie tanzte mit ihm. Und als am ­Donnerstagmorgen der Vier-Uhr-Schlag sowie ein Heer von frenetisch hämmernden Tagwach-­Trommlern den Schlusspunkt setzten, öffnete Milly, ohne lang zu fackeln, den Reissverschluss. Und lag Texas-Billy nackt in dessen Fleischer­armen.

Die Familie war glücklich, als der Texaner sie auf seinen Schlachthof abschleppte. Nur Alphonse schmollte ein bisschen. «Was sollen solche Schinken in Mexiko?!»

Texas-Billy nahm die Marotte von Milly gelassen. Er war von seinen Landsleuten weitaus Verrückteres gewohnt. Sein Bonmot «Lieber ein nacktes Weib daheim, als eine verrostete Flinte im Kasten!» machte in ganz Guadalajara die Runde.

Millys Einladungen aber wurden der grosse Hit in der «perla de occidente», wie die Tapatios ihre Millionenstadt stolz nennen. Bei Mariachi-Musik und einem üppigen Gelage schaute die nun etwas üppig gewordene Milly zum Wohl ihrer Gäste. Ihr nackter Auftritt war die beste Fleischschau am Ort. «Und? Wie finden Sie unsere Wurst?», flirtete sie mit den Senores.

Als ich Milly zum letzten Mal sah, war sie bereits in den 70ern – noch immer schön und prall. Und noch immer ohne Kleider. Sie war nun Witwe und führte die Fabriken ihres Mannes. Milly war es auch, welche die erste vegetarische Bratwurst auf den Markt brachte –mit Tofufüllung und mit dem Slogan: «Fast so fein wie Schwein … casi tan bueno come el cerdo!»

Als sie sich von einem (leider bekleideten) ­Diener diesen Mezcal-­Schnaps aus einer Flasche, in der stets eine Schmetterlingsraupe schwimmt, servieren liess, nahm sie meine Hand: «Ich möchte in meiner Heimatstadt begraben sein. Hier – es ist alles aufgeschrieben … und du wirst die Sache überwachen.» Sie drückte mir die Kopie eines Testaments in die Hände.

Das Geld ging an vier Kinderdörfer in Mexiko – sie aber kam in einem Bleisarg so nackt zurück, wie sie gegangen war. Als der Bestatter Milly in ein weisses Spitzenhemd kleiden wollte, zeigte ich auf das Testament: «Hüllenlos bitte – es war ihr Wunsch…» Ich spürte, dass er auf eine Erklärung wartete. «Sie war etwas ­sonderbar», bediente ich mich der Worte meiner Familie…

Dienstag, 6. September 2016