Lumpenliesel

«Lumpenliesel» – so hiess sie im Quartier.

Niemand wusste Genaues.

Es ging das Gerücht, dass durch Liesels üppige Formen blaues Blut fliessen würde. Deutscher Adel. Doch – leider, leider! – war Liesel der ­Trunksucht verfallen.

DIE FAMILIE HABE SIE DESHALB VERSTOSSEN!

Wie gesagt – ein Gerücht!

Andere behaupteten, das mit dem Adel wäre ­blanker Unsinn. Liesel sei aus Ostberlin angereist – damals, als die Grenzen plötzlich offen waren.

Grund: In Bern wartete ein Lover.

Jahrelang hätten die beiden heisse Briefe ­ausgetauscht. Manchmal sei der alte Schweizer Gewerkschafter bei ihr im Osten aufgekreuzt. Er habe dann Schokolade, Nescafé und Emmentaler-­Käse zurückgelassen. Sowie das Versprechen: «Irgendwann leben wir zusammen, Liesel – dann trennt uns keine Mauer mehr!»

Tagelang habe sie in der Bundesstadt ihren Berner Galan gesucht. Die Adresse sei falsch gewesen. Doch Liesel ging aufs Meldeamt. Fand seine Bude. Und die Ehefrau , welche die Türe öffnete und ­Liesel angeschrien habe: «ABER NICHT SCHON WIEDER SO EINE OST-TUSSI! SIE SIND IN ­DIESEM MONAT DIE VIERTE!»

Deshalb: inneres Chaos – und ab an die Flasche!

Wie gesagt: Man erzählte sich das so.

Doch wie so oft: Gewiss war gar nichts. Und ­deshalb redeten die Zungen viel.

Schon früh morgens stiess Liesel ihren ­Einkaufswagen, den sie vor einem Supercenter geklaut hatte, durch die Strassen der Nobel-­Region: Es war die Zone der Botschafter und höchsten Bundesbeamten.

Der Karren war gefüllt mit alten Kleidern – ­Lumpen eben. Deshalb also: Lumpenliesel.

Manchmal schenkten ihr die Leute abgetragene Pullover. Oder zerrissene Jogginghosen. Alles türmte sich im Wagen. Und verdeckten dort die Flasche – halb voll mit billigem Fusel.

Eines Tages war Liesel weg. Kein Geratter mehr auf den Trottoirs der Vornehmen. Kein fröhliches «Tach, die Herrschaften!» Jetzt war das Quartier eisig und stumm – totenstill, könnte man sagen.

Die Menschen blieben auf der Strasse stehen. Und redeten plötzlich miteinander: «Wo ist denn die Lumpenliesel?»

Man stellte Mutmassungen an: «Zurück nach ­Berlin?» Oder: «Vielleicht hat sie im Lotto ­gewonnen.»

Plötzlich vermissten sie alle. Es fehlte das ­gemütliche Geknatter des Einkaufwagens. Es fehlte das Scheppern der Schnapsflaschen. ES FEHLTEN EIN BISSCHEN LEBEN UND SONNE.

Alle dachten nun dasselbe:

«LUMPENLIESEL MUSS WIEDER HER! OHNE SIE IST DAS QUARTIER SCHON HEUTE TOT!»

Die Frau des spanischen Botschafters (die ­eleganteste in der Nobelrunde) ging im Auftrag der ganzen Elitezone zur Polizei. Und liess nach Liesel suchen.

Der Kommandant versprach, alle Hebel in ­Bewegung zu setzen. Schliesslich wusste er, wen er vor sich hatte.

Patrouillen durchkämmten die Junkie-Zonen, die Suppenküchen, die Alki-Plätze.

KEIN POSITIVER BEFUND.

Die spanische Frau Botschafter nannte den ­Kommandanten einen Esel. Und machte sich zusammen mit einer berühmten Schokoladen-­Erbin und zwei Konsulgattinnen persönlich auf die Strümpfe.

Sie fanden Liesel in einem Spitalzimmer.

Aschfahl. Und im sauberen, weissen Nachthemd, das nicht zu ihr passen wollte.

Liesel hing an Flaschen – die waren jetzt nicht mehr hochprozentig.

Als sie die Augen öffnete, lächelte sie:

«Tach, die Herrschaften!»

Dann gab sie den Lumpenkarren ab. Für immer.

Die Frauen weinten am Bett.

Dann gingen sie zurück – in dieses Quartier, das jetzt wieder frostig grau und ohne Farbe war.

Montag, 8. August 2016