Falsche Leiche

Der Sarg stand in der Kirche.

Einige Frauen des Dorfs schlugen das Kreuz davor. Sie öffneten das Fensterchen an der ­Kopfseite der Holzkiste. Und hauchten einen Kuss auf das Glas.

Max schauderte. DAS WAR JA SO WAS VON UNHYGIENISCH!

Man sieht, was Max für einer ist: der ultra­pingelige Städtertyp.

Tante Erna war seine erste Tote. Er kannte ­Leichen nur aus den Sonntagskrimis.

Allerdings: Erna wurde weder erschossen noch abgeschlachtet. Sie ging nach einer Lungenentzündung ab in die ewigen Jagdgründe. Mit 89.

Okay. Heute ist das kein Alter. Aber immerhin…

Max hatte nur eine lose Beziehung zu seiner Grosstante gehabt. Erna war ledig. Wohnte in ­diesem Dorfkrachen. Sie hatte Geld. Viel Geld – ein Erbe, das jetzt Max zustand.

Zwei-, dreimal im Jahr hatte Max sie besucht. Er nannte sie «Tantchen». Und merkte nicht, dass sie bei dieser Bezeichnung stets leicht ­zusammenzuckte.

Max ist nun mal so etwas von unsensibel!

Das Verhältnis erlebte ein Aufflackern, als Max Myrtha mitbrachte. «Tantchen» schenkte ihnen zur Hochzeit ein antikes Teeservice. Und einen Scheck über 10 000 Franken.

«Eines Tages gehört dir ja eh alles», meinte sie zu Max.

«Ich freu mich drauf!», lachte Max. Wie gesagt: ein unfeinfühliger Dummarsch.

Die Ehe zerbrach.

Erna erhielt einen Anruf aus dem «Haus für geschlagene Frauen». Max hatte Myrtha übel zugerichtet.

Tantchen zitierte ihn ins Dorf:

«Mach eine Therapie!», zischte sie eiskalt.

«Dumme Sau!», dachte Max.

«Ja, Tantchen», sagte er.

Max prügelte weiter. Und die Ehe wurde ein ­halbes Jahr später geschieden.

Die Orgel orgelte schon, als der Pfarrer auf Max zugesegelt kam: «Mein innigstes Beileid. Wie schön, dass sie unser bescheidenes Dorf ­beehren. Erna war eine grosse Stütze der ­Kirchgemeinde.»

Er zog ihn zum Sarg. Und öffnete das Guck­fensterchen: «Sicher wollen sie von der guten Seele Abschied nehmen…»

Max schauderte. Beugte sich zum Glas.

Und wich entsetzt zurück: «Das ist nicht meine Tante Erna. Die Leiche hat einen Bart!»

Grosse Aufregung. Man alarmiert Bestatter ­Graber. Dieser karrt den Bärtigen lamentierend weg. («Es ist der Burger Hausi – der kommt erst morgen dran. Ich hole jetzt Erna. Aber ich muss sie zuerst umbetten.»)

Die Gemeinde wartet in den Kirchbänken – die Orgel überspielte die Panne. Und toste zum ­dritten Mal «Oh Himmelstore, öffnet euch…»

«Weshalb habe ich nur etwas gesagt…», ­jammerte Max stumm vor sich hin.

«Ich sollte um drei Uhr auf dem Golfplatz sein…»

Schliesslich hievt Graber das tote «Tantchen» vor den Altar.

Und übergibt dem Pfarrer einen Brief: «Das ­Testament. Es lag unter ihrem Totenkissen…»

«Danke, Graber», knurrte der Geistliche.

Dann erhellte sich seine Miene: «Mein ­gütiger Gott! UND D A S WÄRE MORGEN IN RAUCH AUFGEGANGEN…»

Er küsste weinend das Sargfensterchen: «Liebe, gute Erna!»

In ihrem Testament bestimmte die Tote: «Die Hälfte des Vermögens geht an die Kirch­gemeinde – die andere Hälfte an das ‹Haus für geschlagene Frauen›.»

Böses Tantchen.

Jetzt war Max geschlagen.

Und «Gottes Wege sind wunderbar …», predigte der Pfarrer am Sonntag.

Montag, 18. Juli 2016