Das andere Glück

Die alte Frau schaute aufs Meer.

Wie ein Feuerball tauchte die Sonne ins Wasser ein.

Helen liebte diese Sonnenuntergänge auf ­Sansibar.

Der Name der Insel hatte sie immer fasziniert. Mit 60 wollte sie den Traum wahr machen. Ihre ­Tochter schimpfte: «DU SPINNST DOCH – IN DEINEM ALTER!»

Helen kümmerte sich nicht darum – so wie sie sich ein Leben lang nicht um Meinungen oder Getuschel der anderen gekümmert hatte.

Helen war eine gute Buchhalterin – als allein­erziehende Mutter schnitt sie eher schwach ab. Die Beziehung zu Elke hatte nie aufgeblüht.

Und so zog die Tochter bereits mit 18 von zu Hause weg. Elke meldete sich nur noch zum ­Muttertag. Und auch da ziemlich verkrampft.

Helen buchte also einen Monat Sansibar. Sie war von der Insel verzaubert – von der Insel. Und den Menschen.

Rashid brachte jeden Morgen bunte ­Blütenbouquets in ihr kleines Strandhaus.

Nun ja – Haus war arg übertrieben. Es war eine Hütte. Aber die stand auf kalkweissem Sand, drei Schritte vom Meer entfernt.

Wenn Helen morgens aus der Türe kam, ­streichelten handwarme Wellen ihre Füsse zum Tagesgruss.

Sie beschloss zu bleiben. Unvernünftig zu sein. Und mit ihrem Ersparten auf der Insel ein Haus zu kaufen.

Die Jammertelefonate liefen heiss: «WAS WILLST DU DORT… STECKT EIN MANN DAHINTER…?»

Es steckte kein Mann.

Die Blüten-Kompositionen von Rashid reichten ihr völlig. Und wenn dessen Frau , die dicke Malaika, zum Frühstück goldgelbe Mangowürfel und ­kardinalsrote Wassermelonen-Schnitze auf einem Holzteller brachte, dann war Helen ­glücklich.

In ihrer Erinnerung vernebelten sich die ­Tiefkühlregale mit den 100 Sorten von ­Magerjoghurt und Frühstücksflocken zu etwas Absurdem aus einer anderen Zeit.

Helen spürte, dass ihr Leben einen neuen ­Rhythmus bekam. Selbst ihr Herz schlug ­langsamer – «pole! pole!», lachten die Menschen, wenn sie etwa allzu hastig dem Bananenmann entgegenlief, «langsam, langsam!».

Das Lachen der Leute war Dauersonnenschein für sie. Die Uhr trug sie schon lange nicht mehr – so war mit der Zeit auch Elkes Magengeschwür ­verschwunden.

«Bibi» – wurde sie von den Leuten im kleinen Ort gerufen: «Grossmutter».

Ihr Haar war in den letzten 20 Jahren spröde geworden – aber ihre Haut blieb weiss. Und geschmeidig. Die Kinder streichelten ihre Arme mit den kleinen, dunklen Fingern: «nzuri… nzuri…, schön… schön!»

Einmal klopfte eine Delegation einer ­Drittwelt-Hilfegruppe an.

Dem Dorf sollte ein Schulhaus gespendet werden. Und die Leute ­wollten von Helen wissen, wie man hier lebe…

Sie hatte gelächelt: «Die Menschen sind arm. Und reich. Sie haben ihr Lachen. Und sie kennen ­keinen Druck, keine Eile. Sie nehmen das Dunkle gelassen und können sich über die kleinen ­Glücksmomente des Tages freuen …vielleicht ­sollten wir von ihnen lernen.»

Die Delegation hatte leicht pikiert reagiert. Es waren nicht die Worte, die man hören wollte.

Die Sonne war jetzt im Meer untergetaucht.

Helen wuchtete sich aus dem alten Korbstuhl. Malaika kam zu ihr.

Und hielt der alten Frau den dicken Arm hin: «pole… pole!».

Helen stützte sich darauf. Sie war jetzt über 90. Sie lächelte: Selbst der Tod kannte hier keine ­Eile: pole… pole!

Sie freute sich auf den Morgen. Und auf das warme Meer, das ihre alten Füsse streicheln würde…

Montag, 4. April 2016