Von Parma-Veilchen und der Drachenseite der Familie

Illustration: Rebekka Heeb

Als Kind wollte ich ein Schloss. Ich schaute mich in Kembserweg-Omis Dreizimmer­wohnung um. Und wusste: DAS IST ES NICHT!

Ein Château also. Dazu das ganze Pimporium: Diener, die vor mir auf halbmast knicksen würden. Und eine Kutsche, aus der ich dem ­huldigenden Volk lässig zuwinkte – ähnlich wie es der lustige Bub schon auf dem Kindersitzsattel des Velosolex seines Vaters tat. Aber natürlich nicht mit derselben Wirkung wie aus dem Sechsspänner in Gold.

Nun gabs in unserer Familie allerdings ein Schloss – «das castellino», wie man munkelte. Die Sache kam so: Meine Grossmutter (die von der Drachenseite) ging mit ihrer Schwester für den restlichen gesellschaftlichen Schliff nach Stresa. Die beiden jungen Damen wohnten im alten Hotel Iles des Borromees. Sie waren verwöhnte Gänse. Und kicherten sich durch den Tag.

Der Besitzer, ein Vermouth-Fabrikant mit Namen Isotta, fuhr dann total auf das ältere der lustigen Schweizer Mädchen ab.

GRANDE AMORE ALSO. Amooooore mit fünf «OOOOO!»

Die Mutter im baselbieterischen Aesch tobte sich die Kehle heiser: «So ein Spaghettifresser kommt mir nicht ins Haus!» Es war nicht die Zeit von Political Correctness – davon war man damals so weit entfernt wie von den Pyramiden. Es half dem Vermouth-Fabrikanten auch nicht, dass er ein Conte war. Und ein Schloss hatte. «Die sind doch alle gleich» – das war der Tenor in Aesch.

Den Conte Isotta ging die zeternde Aescher ­Muhme so ziemlich am Arsch vorbei. Er bestach meine Grossmutter mit einem süsslichen Parfum, auf dessen Viola-Fläschchen ein Parma-Veilchen glühte. Mit dem Parfum spritzte er den sogenannten «Anstandswauwau» vom Aufpasserposten weg. Es war nämlich eine Zeit, wo noch Sitte und Anstand herrschten. Und wo sich junge Damen nicht ohne eine schützende Begleitung von Testosteron-gesteuerten Männern anquatschen liessen. Bei den Schwestern war also jede der Anstandshund der andern.

Nun wurde meine Grossmama aber von ihrer Aufgabe weggelockt. Mit Parma-Parfum. Und guten Worten: «Zieh dir doch in unserem schönen Hotelgarten ein Gelato rein, liebe Lydia.»

DUMME LYDIA! Schon wars passiert. Und alles aus geiler Fresslust. Der Graf bespritzte nämlich auch meine Grosstante. Allerdings nicht mit Parma-Veilchen. Das Resultat liess Aesch erbeben: «So eine Schande. Wage es ja nicht, wieder hierher zurückzukommen!»

Die Grosstante blieb also beim lieblichen See zurück. Und meine Grossmutter musste alleine heimreisen. So wurde sie schon in jungen Jahren frustriert kratzbürstig. Und zeigte sich ein Leben lang unbefriedigt. Vermutlich hängte sie ähnlichen Schlossträumereien nach wie später ihr schöner Enkel. Jedenfalls hat sie nach drei, vier Gläslein süsslichem Asti spumante immer wieder grosse Opern gesungen und ein Drama aus ihrer Vergangenheit gemacht: Sie habe ein Schloss für ihre Schwester aufgegeben. Die Sache mit dem Gelato behielt sie für sich.

Eines musste man dem Grafen lassen: Er hatte einen guten Geschmack. Und deshalb die sanfte Schöne und nicht den Satansbraten mit dem wuchernden Zahnhaar gewählt. So.

Obwohl meine Urgrossmutter – ihr wisst: der Hexenbesen aus Aesch bi Gott – obwohl die Muhme sich also jeglichen Kontakt mit der italienischen Familie verbat, pfiff die Omama darauf. Die Schwestern schrieben einander fröhlich Briefe. Und die Omama liess sich Nellys Briefe sowie die Parma-Parfumfläschchen vom Grafen an die Postadresse einer Freundin nach Reinach (auch bi Gott) schicken.

Als der Vermouth-Fabrikant während des Krieges dann gar noch das faschistische Liedlein mitsummte, war der Zapfen ab: «Was habe ich euch gesagt!», jaulte die Ur-Omama. «Das hat das Nelly nun davon!» Ihre andere Tochter drückte dann aufs Parma-Fläschchen, um mit einem letzten «Pfffft!» von einer duftenden Erinnerung Abschied zu nehmen.

Es war etwa ein Dutzend Jahre nach dem Krieg, als Worte wie «Tante Nelly … Castellino» erstmals wieder wie ein Regenbogen nach dem Gewitter auftauchten. Meine Mutter setzte ihren Betonkopf durch: «Ich will meine Cousinen auf dem Schloss kennenlernen…» Dann zu mir: «Deine Tanten sind richtige Contessen. Du darfst ihnen die Hände küssen…»

Ich wollte nicht die Hände. Ich wollte das Schloss. Und deshalb war ich sofort Feuer und Flamme, obwohl mir mein politischer Links­aussen-Vater die Reise zu Mutters Cousinen mit «das sind alles kapitalistische Wichser» vermiesen wollte. Wir fuhren mit dem alten Käfer meiner Tante Gertrude. Die Schwestern steigerten sich in Wahnvorstellungen, wie sie beim Schlossball alle Pappagalli aufmischen würden. Ich hingegen steigerte mich in die Wahnvorstellung, wie die «kapitalistischen Wichser» das Kind mit Golddukaten zuregnen würden.

Doch als wir dann beim Castello waren, fuhren wir daran vorbei. Und mussten eine Frau beim Friedhof nach den «Isottas» fragen.

Diese spuckte aus. Nannte uns «schweizerische Faschistenbrut». Und «o sole mio», flötete Tante Gertrude, die nur diese drei italienischen Worte auf ihrem Tacho hatte.

Das Schloss war kein solches mehr. War nie ein solches gewesen. Es war in der Erinnerung meiner Grossmutter gewachsen – hatte in der vernebelten Vergangenheit Türmchen und Säle, Seitenflügel und riesige Lüster bekommen. Die Wirklichkeit war eine ziemliche Bruchbude, über deren Eingang allerdings ein abgebröckeltes Steinwappen hing. Aber es hätte auch ein von Tauben zugeschissenes Stumpenplakat sein können. Man konnte das Vornehme unter dem Weiss nur ahnen.

Eine Frau in Wollkäppchen und Küchenschürze wackelte uns entgegen. «Die könnten ihre Angestellten zumindest in anständige Hauskittel stecken», flüsterte Gertrude ihrer Schwester zu. Erst als das Hutzelweibchen bellte: «Habt ihr Maggi-Würfeli mitgebracht?», merkten wir, dass es die Contessa aus Aesch bi Gott war.

Natürlich wurde es dann die ganz grosse Show mit Abküssen, Tränen und der Beteuerung: «Aber jetzt sehen wir uns jedes Jahr!» Ich war da nicht so scharf drauf, bis ich den riesigen Park sah. Da wogte ein gigantisches Meer von Viola-Blüten – es waren Parma-Veilchen. Zu Hause erzählte ich der Omama davon. Sie bellte mich nur an: «Pinocchio! Lüg nicht. Du bekommst eine lange Nase. Das Nelly hat mir davon geschrieben – es ist ein ganz gewöhnliches Radieschen-Beet!»

Wie gesagt: die Drachenseite…

Dienstag, 8. März 2016