Vom Problem mit Servietten und «essen wie eine Sau»

Illustration: Rebekka Heeb

«Du isst wie eine Sau!» – ­Innocent stiert angewidert auf meine Krawatte. Auf dem seidigen Untergrund von lustig galoppierenden Hermès-­Pferdchen hat sich ein Stück Ei abgesetzt. Das flüssige Gelb klebt zwei Finger höher: auf dem Hemdkragen. Innocent schliesst gepeinigt die Augen: «Meine Mutter hat recht gehabt… nicht salon­fähig!» SEINE MUTTER HATTE EINEN PFERDEFUSS. SIE VERSPRÜHTE PECH UND SCHWEFEL. WENN SIE EINE KATHOLISCHE KIRCHE BETRAT, BEGANN DAS WEIHWASSER ZU KOCHEN.

Noch mehr Details gefällig? «Deine liebe Mutter wurde schon mit dem Giftschein geboren!» – nehme ich mir gereizt das Schälchen mit der ­grünen Paste. Doch wenn ich mich nerve, flattern die Hände. Das Resultat: Schabziger auf der Hose! «Man müsste dir eine Plastikplache umbinden», höhnt der beste aller Freunde. «WESHALB KANNST DU KEINE SERVIETTE ANWERFEN?»

Ich könnte. Aber ich tus nicht. Servietten ­verunsichern mich unglaublich. Vor allem: Wohin damit? Wenn ich sie oben ins Hemd stopfe, bekommt der Besserwisser vis-à-vis gleich den Gong: «Ja gehts noch! Wir sind hier nicht im Tramdepot!» Dann im Ton einer säuerlichen ­Gouvernante: «Man stopft sich eine Serviette nicht wie einen Orden an! Und man deckt sich damit auch nicht wie mit einer Bettdecke zu.»

Okay. Ich bin ja nicht blöd. Ich weiss, dass man den Stofffetzen auf den Schoss legt. Spätestens bei meinem ersten Dreisternrestaurant-Besuch musste ich solches am eigenen Leibe erfahren. Wir waren eingeladen. Im «Tour ­d’Argent». Die vornehme Base aus der Dynastie der Innocents feierte dort ihren runden Geburtstag. Ich kann euch sagen: Bei ihr war nicht nur der Geburtstag rund. Sie war es rundum.

An der Wand hing ein 1-Franc-Apparat. Damals. Der Euro lag noch so fern wie die Wahrscheinlichkeit, dass sie mir hier Ramseier-Süssmost servieren würden. Schob man eine Münze in den polierten Kästchen-Schlitz, erstrahlte die Notre Dame hinter dem Riesenfenster vis-à-vis, als hätte die Kirche einen Show-Auftritt. Natürlich wollte ich die Show. Und rief nach einem Franc. Aber der Kellner – dort «garçon» genannt – hielt den ungestümen Mann mit eiserner Hand am Stuhl fest. Dann wedelte er mit etwas Weissem, das gut und gerne ein Hundegrab zugedeckt hätte. «Monsieur!», lächelte er. «Monsieur?», lächelte ich zurück. «Mach die Beine zusammen, zischte der schwiegermütterliche Satansbraten.

Da bettete der Kellner das Weisse auch schon auf meine Knie bis zum Gürtel hoch – dabei fummelte er mit verklärtem Blick am Gebein herum. Ich kicherte: «Mais non … mais non … nicht ici …pas maintenant!» Jetzt fummelte er auch am ­feuersprühenden Drachen vis-à-vis. Die Alte ­verzog natürlich keine Miene. Solche von diesem Schlag sind gefühllos – von der Arsenzunge bis zum krummen Zeh. Der Satansbraten stierte mich nur an, als wäre ich ein Taubenschiss, der unglück­licherweise auf ihrem Teller gelandet war. Dann guckte die galliggarstigste aller Schwiegermütter so eisig wie ein frisch gehacktes Sorbet zu ihrem Göttersöhnchen: «Innocent – wie kannst du uns so etwas antun!»

Ich aber schnallte sofort: Zur feinen Lebensart gehört es, sich die Serviette auf die Kniescheibe drapieren zu lassen. Sie ist dort zwar sinnlos. Aber die Fummelei ist nett. (Je nach Kellner.)

Als kleinstes Kind schon hat man mir das so­­genannte Lätzchen umgebunden. Es war aus ­rosigem Frotté. Darauf war in Kreuzstich ein ballspielender Bär eingestickt. Darunter in Grossbuchstaben: SUSI ISS MUS! Man könnte meinen, dies sei finnische Sprache. Es war aber ein gewöhnlicher, deutscher Imperativ, der ein ­kleines Mädchen mit Namen Susanne aufforderte, ihr püriertes Kompott aufzulöffeln.

Heute gebe ich bei Interviews auf die Frage, «welche Literatur hat Sie als Erstes geprägt», stets Nietzsche oder Schopenhauer an. Aber es war «SUSI ISS MUS!» – so etwas vergisst man nie. «SUSI ISS MUS.» Und später Agatha Christie. ­Lassen wir die schwere Literatur und wenden wir uns dem luftigeren Lätzchen zu. Der Bär darauf war gut geraten – die Grösse des Lätzchens war es nicht. Zwar deckte das rosige Frotté den Babybauch wie auch die kleine, fette Hühnerbrust ab – NICHT ABER DIE UMGEBUNG.

Man schenkte zu jener Zeit den Kleinen sogenanntes Kinderbesteck. Meines war versilbert – eine Art Miniaturschaufel, mit der ich den Spinatbrei zum Mund führte. «Braaaaav…» machten die Grossen. Sie schauten fasziniert zum Kind. Und sperrten parallel miteinander den Mund auf. Ich zog das Püree rein. Spinat war meines nicht. ­Fröhlich spuckte ich den Spuk wieder aus.

Die Wohnung musste alle zwei Monate frisch gestrichen werden – die Vorhänge kamen von der Stange. DAS ESSMÄNTELCHEN (so sagten sie dem Latz) WAR EINFACH ZWANZIG NUMMERN ZU KLEIN FÜR SEINE UMGEBUNG.

Viele Jahre später habe ich im römischen Stadtteil Trastevere meine erste «Coda alla ­vaccinara» gegessen. Die Römer sind bekannt dafür: Ochsenschwanz – in viel Tomaten und Stangensellerie weich gekocht. Sie servieren das Ganze in einem Suppenteller. Und dann binden sie dir ein Tischtuch um. Denn die Coda wird genüsslich vom ­Knochen gesaugt. UND ICH KANN EUCH ­VER­SICHERN: DAS SPRITZT, ALS HÄTTE MAN DIR SÄMTLICHE SPRINGBRUNNEN VON ­VER­SAILLES SERVIERT.

Bei mir haben sie nach dem zwölften Tischtuch das Handtuch geworfen. Dabei war ich noch mit der Hälfte des Ochsenschwanzes im Rückstand. Sie schleppten mich unter die Douche – und mit mir die gesprenkelten Menschen der Nachbartische. Es war eine lustige Erfahrung. Dennoch habe ich künftig auf das köstliche Römer Gericht verzichtet – einzig wenn es mir heute unser Portiere Franco in seiner Badewanne ­serviert, nehme ich die Einladung gerne an.

Ich weiss nicht, was Servietten sollen. Man hat sie immer am falschen Fleck – und dieser zielt bombensicher genau dorthin, wo die Bahn frei und nicht abgedeckt ist. ICH LASSE DIE DINGER ALSO LINKS LIEGEN. Und wenn ein Kellner ­aufgeregt damit zu wedeln beginnt, belle ich ihn scharf zum Rückzug.

Kellner haben eh eine Servietten-Manie. Es ist mir öfter passiert, dass ich mich vom Tisch erhob (Toilette, Freunde am Nebentisch, Lungen­brötchen am Rauchersilo draussen – Kleinstunterbrüche also) – wenn ich zurückkam, war meine ungebrauchte Serviette ausgewechselt. Sie wechseln immer die Lätzchen aus, wenn einer den Tisch verlässt. Zuerst glaubte ich zu halluzinieren. Achtmal bin ich zu Tante Meier zu Pipichen. Achtmal neue Serviette. Aber auf dem Klo kein Papier mehr!

Ich lobe mir die Böhmen und Franken, welche den Lappen nur zum Kochen brauchen. Und ihn für Serviettenknödel verwenden. Und ich lobe meinen besten aller Freunde. Innocent steht mit einem Stapel neuer Hemden vor dem Tisch – dazu eine Auswahl von zwölf Krawatten: «Spritz dich um… mir kehrt es sonst den Magen!»

Vielleicht sollten sich die Restaurateure ­überlegen, statt diesem Servietten-Theater eine Gar­nitur Schlipse und ein halbes Dutzend ­Hemden zu den Tellern zu legen.

Dienstag, 23. Februar 2016