Sonntagsgeschirr

Lore nahm den ersten Teller. Sie schmetterte ihn auf den Boden.

SCHERBEN.

Und irgendwie: ERLEICHTERUNG.

Frühmorgens schon hatte sie das Buffet ­ausgeräumt. Das Bücken tat ihr weh. Ihr Herz hämmerte. Sie war jetzt 88. Da hämmert das Herz öfters. Oder stand dann für immer still.

Lore nahm den zweiten Teller. Der Aufprall verursachte ein knappes «DLIRRR». Die Scherben spritzten unter den Fernsehtisch.

Das Biskuitporzellan trug den Stempel «Sèvres». Handgemalte Heckenröschen blühten unter dem Goldrand. Die Blumen waren mit einer zarten Schleife verbunden.

Auf dem Tisch stand ein ganzes Service: 24 Teller (jetzt noch 22), eine riesige Suppenschüssel, deren Knauf als blühendes Porzellan­röschen mit dem Tellermuster harmonierte – Platten, ­Suppentassen, zwei Saucièren: das Sonntagsgeschirr.

Die Sèvres-Teller waren Hochzeitsgeschenke gewesen. Es war im Krieg und Essen knapp (zum grossen Fest mussten die Gäste Lebensmittel­marken ins Restaurant mitbringen). Aber ­französische Sèvres-Teller gabs. Wenn auch leer.

Ernst und Lore hatten das Service ins Wunschbüchlein aufgenommen – zusammen mit dem Bügeleisen, der elektrischen Nähmaschine und einem ultramodernen Tastenradio.

14 Freunde hatten das Nymphenburg-Porzellan angekreuzt. Immer ein Teller. Die restlichen hatte sich das Paar nach und nach selber geleistet.

Anfang der 50er-Jahre war das Service dann komplett. Als fulminanten Schlusspunkt hatte Ernst ihr die Suppenschüssel zum Geburtstag gekauft. Es war keine Überraschung – aber immerhin hatte er die Schüssel mit Lores Lieb­lings­pralinen gefüllt.

Das Geschirr wurde nur an Festen gedeckt: Geburtstage, Weihnachten – und Sonntag, ­natürlich.

«Sonntagsgeschirr», nannte man das Service. Für den Rest der Woche gabs musterlose Goldrand­teller – «Goldrändli» genannt.

Lore war stolz auf ihre Sonntagsessen und das Sèvres gewesen. Es stand immer auf dem weissen Damasttischtuch. An speziellen Feiertagen füllte sie die Suppenschüssel mit den passenden Heckenröschen, an Weihnachten mit Ästen. Und Lametta.

Sie stellte das üppige Tischmilieu ins Zentrum (Suppe gabs keine).

«Ihr werdet es einmal erben!», hatte sie ihren Töchtern jeweils stolz beim Abwasch erklärt.

Auch später, als die Familie einen Geschirrspüler angeschafft hatte, wurde das Sonntagsgeschirr von Hand abgewaschen. «Sonst geht das Gold ab», mahnte Lore, wenn ihre Mädchen motzten.

Nun stand ihr 89. Geburtstag ins Haus. Sie wollte daheim feiern. Und hatte die Töchter zur Lagebesprechung eingeladen.

Die Mädchen (die nun auch ältere Frauen waren) sollten kochen. Filet im Teig.

Ein Wort gab das andere: «Weshalb können wir nicht einfach Brötchen beim Supercenter bestellen. Kartonteller. Und Plastikbesteck. Das Sonntagsgeschirr ist viel zu umständlich…»

Lore wurde bleich: «Ihr werdet das alles mal erben…»

Hanny lachte auf: «ABER MUTTI, WER WILL DENN HEUTE NOCH SO EINEN SCHMETTER …das ist nicht mehr zeitgemäss. Teller müssen ­spülmaschinenfest sein. Und praktisch…»

Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen.

Um sechs Uhr stand sie auf. Ging zum Buffet.

Und: DLIRRR!

Bei der Suppenschüssel zögerte sie kurz. Dann atmete sie durch. Hob sie hoch.

Und: SCHERBEN.

Die Kinder fanden sie inmitten von kaputten Tellern und Platten…

Sie war seit 28 Stunden tot.

Zerbrochen – so wie alle Sonntage dieser Welt. Und deren Geschirr.

Montag, 22. Februar 2016