Von der Liebe zu Mimosen und dem Leben

Illustration: Rebekka Heeb

Mutter mochte Mimosen nicht. Sie verursachen Migräne. So behauptete sie zumindest. Sie mochte auch Piccolos nicht. Die hohen Töne «machen mir Kopfweh».

Und politische Diskussionen gingen ebenfalls unter Mimosen: «Ich bekomme gleich einen Anfall.»

So wurden alle Diskussionen im Keim erstickt. Allerdings immer erst, nachdem Mutter ihre Ansichten klipp und klar aufgetischt hatte.

Vater schenkte seiner Gattin also müde Tulpen statt der «schrecklich stinkenden Flaumkügelchen».

Ich übte Piccolo im Wald, was bald schon die Stadtgärtner alarmierte und mir dann die Schuld am Tannensterben einbrockte.

Und die Welt wurde schlecht, nur weil Mutter nicht über sie diskutieren wollte.

Für mich waren und sind Mimosen die Blumen.

Die zitternden Kügelchen erinnern immer an zartbesaitete Seelchen – Mimosen-Herzchen eben. Und ihr starkes Parfüm lässt mich von Waggiswagen träumen, denen ich als kleiner Binggis gierig die Hände entgegenstreckte.

Die auf und ab hampelnden, überlauten ­Waggis schenkten mir nur Kaugummi und Cola­frösche. Doch schon damals hätte ich lieber einen Mimosenzweig gehabt. Vielleicht einfach nur im kindisch-kindlichen Bestätigungswahn: «DIE GROSSNASE DA FINDET MICH TOLL!»

Gut. Ihr staunt – aber meine Gedanken ­schlugen schon damals gewaltig Purzelbäume.

Nun ja – von all dem ahnte Mutter nichts, die mit mir am Cortège stand. Und mit Mimosensträussen bombardiert wurde. Da sie recht attraktiv war, wurde sie mit den eidottrigen Blüten so zugedeckt, dass man kaum mehr ihre Himmelfahrtsnase und die stets etwas zu stark geschwärzten Augenwimpern hinter den goldgelben Zweigen ausmachen konnte. Für mich blieben Frust sowie ein Kilo Colafrösche. Und für Mutter dann: Jammertal und Migräne.

Meinen allerersten Mimosenstrauss habe ich von Rosie bekommen. Sie war damals acht Jahre alt und einen halben Kopf grösser als ich. Das machte sie zur Führernatur. Eines Tages eröffnete sie mir: «Ich setze mein ganzes Sackgeld für einen Mimosenzweig ein. Den darfst du haben. Aber du musst Hugo Abächerli dazu bringen, dass er mich küsst.»

ACH GOTTCHEN. ROSIE WAR JA SO ETWAS VERSCHOSSEN IN DIESE NIETE! Und man muss sich vorstellen: kein Handy, kein Grindr, kein WhatsApp. Was für eine verschissene Zeit!

Ich passte Abächerli also nach der Sonntagsschule ab: «Ich hätte da einen Deal …»

Er machte sofort auf geschockt: «Meine Mutter hat gesagt, ich müsse es ihr sofort melden, wenn du so etwas sagst.»

Ich wischte die Mutter als unbedeutend aus dem Gespräch: «Die Rosie steht auf dich. Sie will, dass du sie küsst.»

Abächerli zögerte einen kurzen Moment. Dann: «Sie hat Vorstehzähne … da graut es mir.»

«DU KANNST MEINEN LEDERNEN FUSSBALL HABEN!» (Der lederne Fussball war ein Geburtstagsgeschenk meines Vaters gewesen. Er dachte, die Ballettfüsse seines Jüngsten würden sich doch noch zum Guten wenden. Taten sie nicht. Deshalb war der Ball zu haben.)

Zögern von Abächerli (ich sagte euch ja: Er war eine Niete!). Schliesslich: «… und wenn ich sie nur auf die Wange küsse?!»

«WANGENKUSS? DAS IST ETWAS FÜR BECKENRANDSCHWIMMER. DU BIST DOCH EIN MANN!» Das war er eindeutig nicht. Aber verschossen in meinen Fussball. Deshalb knurrte er: «Deal gilt!»

Das Ende vom Lied war Rosies tobender Vater, der bei dem verblüfften Abächerli Senior Sturm läutete und brüllte: «WENN IHR SOHN NOCH EINMAL DIE ZUNGE IN DEN HALS MEINER TOCHTER STECKT, ZEIGE ICH DIESEN SITTENSTROLCH AN!»

Natürlich machte die Sache die Runde. Mein fürsorglicher Vater rief mich zu sich aufs Sofa: «Also, da ist ja die Sache mit den Bienchen und den Blumen … UND WENN DER HUGO AB­­ÄCHERLI DIR JE EINEN DEAL VORSCHLÄGT, DANN SAGST DU ES MIR SOFORT!»

Immerhin – die geküsste Rosie war im seligen Delirium. Und hielt ihr Versprechen. Ich bekam meinen ersten Mimosenzweig, den ich allerdings auf den Balkon stellen musste. Denn: MUTTER …MIGRÄNE … IHR WISST JA.

Viele Jahre später hat mich eine Pressereise nach San Remo geführt. Es war im Februar. Und in Basel war Morgestraich. Da ich aber die Knete brauchte, um Steuern nachzubezahlen, nahm ich den Auftrag an. Ich verzichtete auf Waggiswagen. Und Colafrösche.

Wir besuchten also die Côte. Und dort auch die schwefelgelben Mimosenhaine. Ich brach in ­Tränen aus. Und ich weiss noch, wie sich der italienische Blumenführer flüsternd bei den andern Kollegen erkundigte: «Was haben dickes Mädchen? Weshalb es weinen?»

Ich war einfach überwältigt. Da hingen meine Lieblingsblumen tonnenweise an Ästen. Sie versprühten einen süsslichen Duft, dass einem der Kopf drehte, als habe man sich mit 30 Gramm Gras zugedröhnt. Ich schluchzte nun: «BEI UNS IST FASNACHT … BEI UNS IST FASNACHT!»

«Er ist halt ein Basler», flüsterten die Pressekollegen etwas geniert dem Blumenmann zu.

Jedenfalls schnippelte der nette Führer einen Ast ab. Und drückte ihn mir in die Arme: «FÜR SCHÖNES MÄDCHEN.»

Ich liess ihm seinen Irrtum. Sagte artig: «Grazie Tante …» Und jagte mit dem nächsten Zug nach Hause.

Den Mittwoch-Cortège schaffte ich gerade noch. Aber natürlich: nur Colafrösche! Heute kaufe ich mir meine Mimosen selber. Ich drücke die Nase hinein. Und bin einfach nur glücklich. Die Blüten erzählen mir hunderttausend Geschichten. Bald schon werden die zarten, zittrigen Knöpfchen nur noch spröde, vertrocknete Kugeln sein. MIMOSEN ZEIGEN UNS, WIE DAS MIT DEM LEBEN EBEN SO LÄUFT …

«Schaff diesen Besen weg!», tobt Innocent. «Du weisst, dass ich von Mimosen Migräne bekomme.»

Mimosen blühen überall.

Dienstag, 2. Februar 2016